Roland Ostertag Veranstaltung 09. Juli 2011, 20.00 Uhr im Literaturhaus
SEI WAHRHAFTIG GEGENÜBER DER VERGANGENHEIT
(Leonardo da Vinci)
Gedächtnis und Erinnerung unser Thema. Gedächtnis ‚die Fähigkeit, Bilder, Informationen abrufbar zu speichern. Erinnerung, die Fähigkeit aus dem Gedächtnis Bilder, Informationen zu aktivieren. Warum dieses Thema? Heute? In dieser Stadt?
Es sind Themen unserer Zeit. Gründe: Erstens: Wir leben in einer zutiefst restaurativen Zeit. In den Wissenschaften, der Architektur, denken wir an das Berliner Schloss, Tagebücher, Biographien haben Konjunktur. Zweitens: Vieles jährt sich derzeit, Jubiläen, Geburts‑, Todestage. Schiller, Schumann, Johann Peter Hebel, Freiligrath, Fritz Bauer. Drittens, der sorglose, nur oekonomische Aspekte berücksichtigende Umgang mit dem „begehbaren Gedächtnis,“ unserer Vergangenheit. Der Abrissfuror grassiert wieder in unserer Stadt. Über 15 Objekte bei Stuttgart 21, Hotel Silber und weitere unter Denkmalschutz stehende Gebäude. Viertens: Das dunkelste Kapitel unserer Geschichte, die NS Zeit, meldet sich, auch in Stuttgart, nach 70 Jahren wieder zurück. Zeichen dafür, dass wir uns damit immer noch nicht ausreichend und „wahrhaftig“ beschäftigten. Meistens Versuche des Verschönerns, Verschweigens, Vernebe lungen, Entschuldigens. Anscheinend haben wir alle Wasser des Flusses Lethe, im Hades der Griechen, getrunken, was ja alle Erinnerung auslöscht? Ín wenigen Jahren wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Das Gedächtnis reicht dann noch weniger weit zurück.
Nachdem die Bemühungen seit 1945 in unserer Stadt, z.B. von Otto Sauer und Roland Müller, nicht zu einer dauerhaften Aufarbeitung geführt haben, sollten wir endlich im dritten Anlauf, zwei Generationen nachdem dieses Reich mit Schwefelgeruch in den Orkus fuhr, angestossen durch das Hotel Silber das Verschweigen beenden, uns unserer Vergangenheit stellen. Wenn wir von unseren Kindern, Kindeskindern gefragt werden, warum die Dauer in Stuttgart von besonderer Dauer war, ist es besser zu schweigen. Offensichtlich fällt Menschen dieser Stadt der Umgang mit diesem Thema besonders schwer.
Erinnern wir uns:
Erst 65 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen konnte 2006 die Gedenkstätte ZEICHEN DER ERINNERUNG an der Otto-Umfrid-Str., Deportationsort der dem Tode bestimmten Menschen jüdischen Glaubens, der Öffentlichkeit übergeben werden.
Erst 65 Jahre nach der Deportation der Sinti/Roma von diesem Ort in die Gaskammer des Vernichtungslagers Auschwitz konnten 2008 ihre Namen angebracht werden. Erst 75 Jahre nach Einrichtung der Gestapo-Leitstelle 1935 im früheren Hotel Silber, wo mitten in der Stadt die schlimmsten Verbrechen organisiert und ausgeführt wurden, findet die Auseinandersetzung über Abriß/Erhalt dieses Gebäudes statt.
Erst 66 Jahre nach Einrichtung des KZ-Aussenlager Leinfelden-Echterdingen des KZ Natzweiler konnte die Gedenkstätte „Wege der Erinnerung“ am 12.06.2010 eingeweiht werden.
Wir haben uns zu fragen:
Warum dauerte es so lange,bis unsere Gesellschaft sich dieser Ereignisse erinnerte, Orte des Gedenkens einrichtete? Kann das fast Vergessene als Gedächtnis, Teil der eigenen Geschichte an diesen Orten bewahrt, an die folgenden Generationen weiter gegeben werden? Erinnerung provoziert Vergangenheit? Kann Architektur, Literatur dazu beitragen, den Gedächtnisschwund stoppen, Erinnerungsarbeit leisten? Das Nicht-Darstellbare, dieses unmenschliche Geschehen, erlebbar darstellen.
Können wir aus einem Ort, der nicht das Ergebnis von Denken ist, einen Ort machen, der Anlass zum Denken, zum Nach‑, zum Vordenken wird? Wo Geschichte gegenwärtig, lebendige Erinnerung, Vergangenheit Gegenwart, Gegenwart Zukunft wird? Unsere Verantwortung bezieht sich auch auf das, was heute und morgen sein kann, sein soll. „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich auch erinnert, was noch zu tun ist.“ Der große Philosoph des Prinzips Hoffnung, Ernst Bloch, hat mit diesen Worten die Erinnerung in die Pflicht des Handelns genommen.
Voraussetzung Gedächtnis, Erinnerungen haben. Die Geschichte ist eine einzigartige Schatzkammer für gelungene/misslungene Versuche sich auf dieser Erde ein zurichten, ist Gedächtnis,Archiv unserer Bemühungen. Wer uns diese vorenthält, beraubt uns alle. Ein Land, eine Stadt, das seine historischen Häuser abreißt, ist wie ein Mensch, der sein Gedächtnis verliert. Schinkel 1815: so werden wir in kurzer Zeit unheimlich, nackt und kahl wie eine Colonie in einem früher nicht bewohnten Lande dastehen.
Die NS-Schreckensherrschaft hat Ruinen, materiell-physische, geistige, psychisch-seelische hinterlassen. Wir erleben seit wenigen Jahren, nach Jahrzehnten des Schweigens, eine Welle des Gedenkens. Nehmen Jahrestage zum Anlaß, Mahnmale, Gedenkstätten zu fordern, zu realisieren. Berlin: Das Holocaust-Mahnmal, das Jüdische Museum,die Topographie des Terrors, Gedenkstätten hier im Südwesten. Besteht die Gefahr„dass die Vergangenheit, die Gegenwart gleichsam im Wald des Gedenkens versinkt?“ Sind wir dabei uns durch Alibis zu beruhigen? Liegt die Versuchung nahe dass Staat, Politik, Gesellschaft sich damit aus der Verantwortlichkeit zurückzieht?
Erinnern war in der alten Bundesrepublik lange Zeit ein Fremdwort. Die Ungeheuerlichkeiten der NS-Zeit wurden von der Kriegs- und Nachkriegsgeneration tabuisiert/relativiert. Verwaltung, Justiz, Stadtplanung häufig mit Personal besetzt, das in der Kontinuität der NS-Zeit stand. Bekanntestes Beispiel Adenauers Staatssekretär Hans Globke. Besuchen Sie im Alten Schauspielhaus das Theaterstück„Alles was Recht ist“. Inmitten von Zerstörung materieller Not konzentrierte man sich auf Probleme des Überlebens. Konkrete Geschichtsbewältigung fand in vielen Städten durch Abriss, Planierung, Umnutzung statt. Beisp.: Auf Westberliner Seite wurden Ende der 50er Jahre die noch erhaltenen Ruinen der Zentrale des Schreckens, die Reste des Reichssicherheitshauptamtes und der SS abgerissen, die Grundstücke an der Wilhelmstrasse abgeräumt, das Areal Brache. Dass sich hier das Zentrum von Himmlers „SS-Staat“ befunden hatte, geriet in Vergessenheit. Zu Beginn der 80er Jahre, der Kalte Krieg dominierte nicht mehr die politische Wirklichkeit, wurde durch Personen, Bürger- initiativen der Ort wieder entdeckt, als Prinz-Albrecht-Gelände, „Ort der Täter“ der Ort der Zentralen von Gestapo und SS in das historische Gedächtnis zurückgeholt. Am 6.Mai konnte die Gedenkstätte Topographie des Terrors fertig gestellt werden.
Und Stuttgart ?
Ob und wie wurde in Stuttgart Erinnern, Erinnerungsarbeit geleistet, das Gedächtnis ein-und zurückgeholt? Wie ging man mit der Gestapo-Leitzentrale, dem Hotel Silber um? Grundsätzlich nicht anders, der Zeitgeist herrschte überall. Verschweigen war ab 1945 bis in die 80er Jahre auch in Stuttgart das Gebot der Stunde. Personen die Aufklärung forderten,wurden als „Netzbeschmutzer“ und „Verräter“ bezeichnet. Hans Filbinger, Ministerpräsident des Landes „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“. Fritz Bauer: „Eine unselige Mischung aus Scham, Schuldgefühl, Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen und falsch verstandenem Patriotismus,wurde zur Lebenslüge dieser Jahre“. In Stuttgart, seiner Heimat ging es noch langsamer von statten.
Erst durch die Absicht von Land, Stadt, Breuninger das Projekt da-Vinci mit Luxushotel, Kaufhaus, Ministerien zu errichten, wurde es zum Thema. Begründung: Der Abriss der früheren Gestapo-Zentrale, 3% des Projekts, sei hierfür Voraussetzung, das Gebäude sei nicht mehr authentisch. Die Spitze der Stadtverwaltung behauptete 2008/2009 das Gebäude sei ein Neubau der frühen 50er Jahren. Eine Behauptung, die heute nach gründlichen Recherchen nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Über den Begriff Authentizität wurde seit dem 19. Jahrhundert ausführlich diskutiert, ob nur der Originalzustand oder auch die Spuren des Umgangs der Zeiten mit dem jeweiligen Patienten Teil der Authenzitität sind. Die Wissenschaften sind sich einig, dass Spuren, Eingriffe und ihre sichtbaren Folgen der Geschichte ebenso wertvolle, manchmal wertvollere Elemente von Authentizität sind wie originale Bestandteile. Narben erzählen eben mehr wie glatte Haut.
Die wirkliche Erfahrung der wirklichen Geschichte, ihrer realen Spuren und Hinterlassenschaften ist durch nichts zu ersetzen. Es gibt ein Bürgerrecht auf Geschichte und den Anspruch auf historische Wahrheit, politisch und baulich.
In Köln, Berlin, Dresden und andernorts waren es ausschließlich politisch-moralische, keine ökonomischen Gründe für den Erhalt der Orte/Gebäude, für die Einrichtung einer Gedenkstätte, eines NS-Dokumentationsz. Wie es auch in Stuttgart sein müsste.
Doch in Stuttgart hat sich die Politik nicht nur von diesem Thema verabschiedet. Unbegreiflich, ja grotesk ist es, dass die Eigentümer des Gebäudes, Stadt und Land, über Jahrzehnte alles getan haben, die Spuren der NS-Zeit zu beseitigen, dies zu veranworten haben. Und heute behaupten, das Gebäude könne wegen fehlender Authenzitität abgerissen werden. In Wahrheit wegen ökonomische Gründe. Oder? Deshalb der doppelte Vorwurf an Stadt und Land, an die Verantwortlichen: Damals und heute geschichts- und rücksichtslos mit unserer Vergangenheit umzugehen. Es gehört schon eine gehörige Portion eindimensionalen, gefühllosen, effizienz-/vermarktungsversessenen Denkens dazu, ein so sensibles Thema auf diese Betrachtungsweise,diese primitive Ebene zu reduzieren. Nicht Ergebnis von Denken, sondern Anlass zum Denken.
Beschämend, peinlich, wie in unserer Stadt gegenüber anderen Städten das Selbstverständlichste nicht als selbstverständlich betrachtet und entsprechend gehandelt wird. Welcher (Un-) Geist, welche Denkart herrscht in dieser Stadt?
Peter Handke: „Mein einziger Glaube ist wohl der an die Kraft der Orte, und die Orte sind im Schwinden.“
Er meinte damit sowohl die geistig-gedanklichen Orte, als auch die sinnlich wahrnehmbaren, räumlichen Orte, die Gebäude, Städte. Hans-Martin Decker-Hauff, einer der großen Chronisten unserer Stadt, überschreibt 1966 die Einführung seiner “Geschichte der Stadt Stuttgart” mit “Was ist uns Stuttgart?”. Voller Zweifel ob wir nicht bald “Was war uns Stuttgart?“ schreiben müssten. Schon damals war er entsetzt über den gedanklichen, realen, den oberflächlichen Umgang mit der Geschichte, den Charakteristika, den einmaligen Qualitäten der Stadt. Nicht nur seiner traumhaften Lage. Trauer erfasst ihn ob der Zerstörung der Stadt durch Krieg, Wiederaufbau. Er beklagt den Verlust der Orte, des „begehbaren Gedächtnis der Stadt“ altdeutsch mit Heimat, neudeutsch mit Identität bezeichnet, der Übereinstimmung mit sich selbst, als Person, als Kollektiv. Untrennbar verbunden mit dem kulturellen, historischen Erbe. Es ist das Gedächtnis der Städte, daraus schöpft ihre Erinnerung, das ist ihre Persönlichkeit.
Es sind konstituierende, stabile, kaum zerstörbare, ungeheuer strapazierfähige Elemente, die unser Innenleben anregen, befriedigen. Viele dieser identitätsstiftenden Merkmale wurden durch brutale und ungeregelte “Urbanisierung”,durch Abriss ausgelöscht, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Da die “Kraft der Orte im Verschwinden ist”, doch die Sehnsucht nach ihnen zunimmt, wäre es Aufgabe der Stadtpolitik nicht nur rationale, sondern emotionale Werte, identitätsstiftende Bilder, Zeichen und Symbole zu schaffen, so weit vorhanden zu erhalten. Dadurch und dabei „Wahrhaftig zu sein gegenüber der Vergangenheit“. Darin suchen die Menschen Halt in unserer kalten Welt. Personen, eine Politik sind gefragt, die die Identität ihrer Stadt nicht sehen und suchen z.B. in einem unterirdischen Bahnhof, im tabula rasa ganzer Quartiere, nicht in der Telepolis, der digitalen Stadt. Das Denken und Handeln in diesen Kategorien brachte Brachen zutage, gesellschaftliche, soziale, seelische.
„Wenn es ein Krisenzeichen gibt, dann diesen Boom der getöteten Orte“,
Orte, Bilder kann man ihrer Geschichte berauben durch vier Arten der Zerstörung. Der Abrissbirne, der „Wiederherstellung“ eines Zustands, den sie in der historischen Wahrnehmung nie hatten, der meist gutgemeinten Planung einer Neunutzung und der Musealisierung, die eine der unauffälligsten Strategien des Vergessens ist. Auf zweierlei Art: das Ganze zum Museum zu erklären, oder die Spuren/Reste, „ab in ein Museum“.
Erinnern, Erinnerung wird zu einem, zu dem Kriterium Das historische/in der Zeit Erinnern wird immer ärmer an Gesellschaft wie Örtlichkeit, an Gegenständen, Räumlichkeit, Körperlichkeit. Nichts darf ungenutzt bleiben, das Unnütze eines Ortes muss aus den Augen, man stellt rasch eine „sinnvolle“ Neunutzung her. Eine kulturelle, räumliche Brache ist in unserer Gesellschaft politisch/ökonomisch undenkbar. Die Intention ist auf Forträumen, Saubermachen, in der Regel gegen das kulturelle Gedächtnis gerichtet, neue Nutzungs(Konzepte) machen immer auf irgendeine Weise Geschichte zugunsten einer vagen, meist technischen Zukunft, wie bei S 21 zunichte.
Das Erinnern ist „als Politik, Therapie und Ästhetik ein gesellschaftliches, uns alle angehendes Projekt“, das man radikal betreiben muss. Diese Erinnerungsarbeit kann aber nur darin bestehen, durch die gespürte Gegenwart, und das ist immer etwas Örtliches, Räumliches, Körperliches, Sinnlich-Atmosphärisches, Geschichte wahrnehmbar zu machen. Den Orten nicht ihre Erzählfähigkeit als„Texte“ vergegenständlichter Geschichte zu rauben. Um durch Anstrengung der Einbildungskraft an konkreten Orten den Menschen Erfahrung zu vermitteln. Gilt für das Hotel Silber und andere Orte der Stadt, in hohem Maße für Stuttgart 21, nicht nur für den Hauptbahnhof. Mit S21 würde der Stadt ein Teil ihrer Persönlichkeit, ihres Charakters geraubt, wäre städtebaulicher Kannibalismus. Die Gegenwart des Erinnerns brauchen wir wie das gute Neue an Stelle des Alten. Früher realisierte eine Generation 3–5 % einer Stadt, in den vergangenen 2 Generationen bis zu 60%. Umso größer unsere persönliche und kollektive Verantwortung. Umso ernster müssen wir da Vinci nehmen, bei unserer Erinnerungsarbeit wahrhaftig gegenüber der Vergangenheit zu sein. Denn wie soll eine Zukunft gelingen, der die Basis einer Gegenwärtigkeit der Erfahrung von Geschichte/Gedächtnis abhanden kommt, die Orte geraubt werden, an denen sich diese Erfahrung sinnlich verdichtet tradieren kann? Die Stadt hörte auf Lesebuch zu sein.
Man könnte meinen, die Sicherung der Orte sei Sache der Denkmalpflege, sich um die Erhaltung und Pflege der gewachsenen und gebauten Kultur, um das räumliche Erbe früherer Generationen zu bemühen, der gelebten Erinnerung zu dienen. Doch sie versagt fast auf der ganzen Linie. Sie schwankt zwischen Vergessen/Unter- und Über-Aufmerksamkeit, eine besondere Form der Un-Aufmerksamkeit. Gelegentlich unterstützt sie den Erinnerungsfuror, die Nostalgie, jenen sehnsuchtsvollen Gefühl- oder Gefühlszustand jenseits verlorener Erinnerungsfähigkeit, Ersatzmentalität. Haltungen/Maßnahmen, die auch zur Zerstörung, Vernachlässigung, zum Vergessen führen. Wer sich erinnert, verhält sich nicht nostalgisch, sondern erinnert sich.
Was heißt Erinnerung? Politiker, Techniker können immer nur vorschlagen/sich vorstellen, was sie schon kennen. Diese Beschränktheit verstecken sie hinter ihrem Begriff von Realität. Die Folge ist der unendliche Fortschritt in den Verlust, den Verlust von Sein, von Zukunft. Damit wird uns das Zutrauen zur Welt, die Sicherheit unserer Welterfahrung genommen. Die Welt/Stadt spricht nicht mehr zu uns, wird zur banalen, unmenschlichen Maschine, Instrument der Bedürfnisbefriedigung.
Erinnerung ist eine Arbeit der Einbildungskraft, ein Prozess der Produktion, von Gedanken und Bildern, der Reproduktion von Erfahrung, die das nicht mehr Vorhandene im Heute vorstellen kann. Eine Arbeit, die mit Verlusten rechnet, im Bewusstsein des Nie-mehr-wie-früher-Werdens, die Unwiederbringlichkeit als Schmerz zu Bewusstsein kommen lässt, auch Scham über vergangene Irrtümer.
Freilich braucht sie Anlässe, Anstöße. Wir können die Arbeit des Erinnerns, die Bilderproduktion eher an unscheinbaren, kargen, von der Zeit geprägten vernutzten Orten, einer Narbe, an brüchigen Mauern, an verwundeten, verwunschenen, verschwundenen Orten fest machen. Diese haben meist mehr zu erzählen, mehr entzifferbaren Text anzubieten als Orte, die so tun, als seien sie heil, als modernistische, historisierende Fassadenmentalitäten, Revitalisierungseuphorie, die nichts anderes ist als eine kolossale Verdrängungsleistung. Das Abwesende, zu Ahnende, Angedeutete ist das Erinnerbare, nicht das Anwesende, ohne eigenes Zutun Erklärende. Es stört nicht der mehrmals überformte Zustand. Solche unverwechselbaren Orte stellen im Zustand ihres Beschädigt-Seins ein kulturelles Kapital dar, das sich auflöst, wenn es weg renoviert wird. Zeigen wir die Räume/Gebäude mit den Spuren, z.B. den ehemaligen Befestigungslöcher der Gitter vor den Fenstern, der Gebäudebeschriftungen am Eingang, der zubetonierten Öffnung der Wendeltreppe, die zu den Verwahrzellen führte.
Wir wissen, die Nachkriegszeit bis heute ist nicht spurlos an diesem Gebäude, diesen Räumen vorübergegangen. Soll diese wichtige Zwischengeschichte des Ortes als Bauschutt auf den Müll gekippt werden? Dieses unter der Haut dieser Spurenhinterlassenschaften zutage tretende Geschichtsbewusstsein ist ebenso bedeutsam wie das aus den NS-Jahren. Fordern wir die Menschen zu integrativer Suchbewegung, Erinnerungsarbeit auf. Dieses „begehbare Gedächtnis“ darf nicht durch neue Häuser/Museen der „nationalen und regionalen Geschichte“ ersetzt werden. Keine Orte der Zerstreuungskultur der Erlebnisgesellschaft.
Stadt ist Denk‑, Kultur- und Lernwerkstatt. Geschichte, Gedächtnis, Erinnerung muss an vielen Orten der Stadt wahrnehmbar gemacht werden. Als Bilder, die weitere Bilder generieren. Stadtarchitektur muss wieder Spiegel der Welt sein, verweisen auf eine Zivilisation des Erinnerns. Erinnerung ist mit der Imagination verschwistert.
Aus der Fülle subjektiver Bildproduktionen entsteht kollektives Gedächtnis als erinnernde Vergangenheit, ist der beste Begleiter „aus dem Einst, dem Jetzt ins Demnächst“. Der Vergangenheit, der Gegenwart in die Zukunft. Dabei im Sinne Leonardos „Wahrhaftig zu sein gegenüber der Vergangenheit“. Das zu gewährleisten ist eine kultur- und bildungspolitische Notwendigkeit unserer Zeit, in unserer Stadt aus Respekt, Achtung und Verantwortung vor der Geschichte der Stadt. Beim Hotel Silber, bei Stuttgart 21, sonst wo, Beispiele. Abrisse, Zerstörung dieser Orte wäre geschichts‑, pietätlos, wäre Frevel gegen das Gedächtnis der Stadt. Diesen Makel darf Stuttgart nicht auf sich laden. Wir dürfen die Verantwortlichen nicht aus ihrer politischen, kulturellen und moralischen Verantwortung entlassen.
Jean-Christo Ammann, Ausstellungsmacher im Gespräch mit Rémy Zaugg, dem Maler:
Wir haben vergessen, wir Menschen bestehen aus Bildern und aufgrund von Bildern. In ihnen und durch sie sind und werden wir. Wir erinnerten uns an nichts, würden wir unsere Bilder verlieren. Ohne sie gäbe es die Welt nicht. Und ohne sie, gäbe es auch uns nicht.
Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt des Auschwitz-Prozess, 1965 nach der Stuttgarter Aufführung des Theaterstücks „Die Ermittlung“ von Peter Weiss: “Wir Juristen haben in Frankfurt erschreckt gerufen nach dem Dichter, der ausspricht, was der Prozess auszusprechen nicht im Stande ist“.