Meinhard Tenné
Ansprache anlässlich der Übergabe der Gedenkstätte
am 14.6.2006
Zum Gedenken
Warum noch eine Gedenkstätte? Es gibt doch den Gedenkstein auf dem jüdischen Teil des Pragfriedhofs und es gibt doch die Gedenkstele im Höhenpark Killesberg.
Das sind abstrakte Gedenk-Orte. An dem Gedenkstein auf dem Pragfriedhof kommen sehr wenige Menschen vorbei. Am Killesberg geht man vorüber und bleibt selten stehen. Diese Orte regen nicht die Vorstellungskraft der Vorbeigehenden an, sie veranlassen nicht mal zum Nach-Denken.
Wenn wir über Vernichtungslager sprechen und hören, dann sind die Zahlen über die Getöteten so enorm, dass es unbegreifbar ist. Hier, am Nordbahnhof, in Stuttgart, entstand eine Gedenkstätte, die inmitten unserer Stadt aufzeigt, dass es hier eine Zäsur gab, hier hat das große Leiden angefangen, mitten unter der Stuttgarter Bevölkerung, in Sichtweite der Bürgerhäuser, im Jahre 1941.
Auf dieser langen Wand sind die Namen derjenigen aufgebracht, die deportiert wurden und nicht mehr zurückgekommen sind. Zurückgekommen sind nur wenige. Einer davon war Josef Warscher, sel. A., der seine Familie in den KZs verloren hatte und dennoch, sofort nach seiner Rückkehr aus Riga erfolgreich versuchte, einen Neuaufbau der Jüdischen Gemeinde in Stuttgart in die Wege zu leiten, gemeinsam mit anderen Zurückgekommenen und wieder Aufgetauchten, mit Hans Feitel, Ernst Guggenheimer, Alfred Marx, Norbert Moschyz, Benno Ostertag, Robert Perlen, Berthold Wolf u.v.a.
Die Zahlen über die Deportationen von diesem Ort aussind am Eingang zur Gedenkstätte angegeben und sind in ihrer Größenordnung noch vorstellbar. Sie können, ja müssen jedem Beschauer das Grauen vermitteln, was die hier in Waggons gepferchte Juden und viele andere, was Kinder, Frauen und Männer erleiden mussten, als sie ihren Weg in die Vernichtungslager antraten.
Beim Betrachten der Bilder vom Sammellager Killesberg fallen dem Betrachter die großen fragenden Augen der Kinder auf. Was hätte aus ihnen werden können:
Wissenschaftler, Künstler, Arbeiter, Angestellte, Kaufleute, Mäzene und Politiker, Juden, wie sie Stuttgart auch schon früher kannte, wie z.B. Eduard von Pfeiffer geb. 1835 in Stuttgart, gest. 1921 in Stuttgart, Ehrenbürger der Stadt Stuttgart, Erbauer von Ostheim, Gründer vieler Vereine zum Wohle der arbeitenden Bevölkerung, die während der Nazizeit umbenannt wurden und deren ursprüngliche Namen danach wieder eingesetzt wurden oder wie Fritz Elsas, geb. 1890 in Cannstatt, ermordet 1945 im KZ Sachsenhausen, geachteter und geschätzter Politiker, Gemeinderat, Landtagsabgeordneter, Geschäftsführer des Deutschen Städtetags und wie Otto Hirsch geb. 1885 in Stuttgart, ermordet 1941 im KZ Mauthausen, Rechtsrat der Stadt Stuttgart, Direktor der Neckar-Aktien-Gesellschaft, maßgeblich am Ausbau des Neckars beteiligt, Mitbegründer des „Jüdischen Lehrhauses” in Stuttgart, und Retter vieler Stuttgarter und Württembergischer Juden vor der Vernichtung.
Diese Gedenkstätte beweist noch etwas sehr Wichtiges: Die Leugnung der Shoa ist vergeblich. Die Shoa, der Holocaust, hat stattgefunden. Ob Staatschefs, wie der iranische Präsident oder andere hochrangige Politiker sie leugnen oder ob sie an Stammtischen geleugnet wird oder ob Arbeiter und Intellektuelle, oder ob Schüler und Studenten, oder ob Missverstandene und Rechtsradikale dies tun: Es hilft nichts. Die Shoa hat stattgefunden, wie der 2. Weltkrieg stattgefunden hat. Die Shoa hat 6 Millionen Juden das Leben gekostet. Im 2. Weltkrieg sind nach Schätzungen zusätzlich fast 60 Millionen Menschen aus vielen Nationen umgekommen, darunter waren auch hunderttausende Juden in den Armeen der Alliierten, der größte Teil waren Angehörige der russischen Armee, in der über 1 Million jüdische Soldaten dienten, von denen viele auf den Schlachtfeldern umgekommen sind und viele andere die KZs befreiten.
Viele Hinterbliebene der Opfer der Shoa haben keinen „guten Ort”, wie wir den Friedhof nennen, an dem sie ihrer Toten gedenken können. Es gibt keine Gräber, nur eingeebnete KZs oder Massenaufschüttungen von Asche, wo dann eine Zahl angebracht ist. 25.000, 50.000. Diese Zahlen sprengen das Ausmaß des Begreifens und lassen es nicht zu, seiner Toten persönlich in Stille zu gedenken. Auch ich habe neben vielen Angehörigen meine Mutter und meine Schwester, sel. A. in Auschwitz verloren. Sie haben kein Grab, an dem ich ihrer gedenken kann.
Eine sehr wichtige Aufgabe der Gedenkstätte darf daher nicht unerwähnt bleiben:
Gerade diese Gedenkstätte könnte den Hinterbliebenen der Stuttgarter Deportierten ein Ort des persönlichen Gedenkens sein. Hier sind ihre Namen festgehalten. Es ist der Ort an dem der Leidensweg begann, der zu ihrem Tod führte.
Eine Gedenkstätte wie diese muss, nicht kann oder soll, muss für die Stuttgarter Bevölkerung, für die Stuttgarter Politiker und weit darüber hinaus für alle aufrichtigen Menschen, die nicht schweigen dürfen, für uns heute und für die, die nach uns kommen die Mahnung sein: Keine Ausgrenzung, kein Rassenhass, keine Fremdenfeindlichkeit und kein Antisemitismus, aber viel Toleranz und Akzeptanz und viel Verständnis für den anderen.
Dank an alle, die dazu beigetragen haben, dass diese Gedenkstätte entstehen konnte, die uns auffordert zusammenzustehen in dem Bewusstsein: Nie wieder!
Publiziert in:
Zeichen der Erinnerung…
2. überarbeitete Auflage 2006 (S. 76 + 77)
3. Auflage 2009 (S. 78 + 79)
← Dr. Wolfgang Schuster |
→ Prof. Roland Ostertag (15.06.) |