abriele Müller-Trimbusch (Bürgermeisterin der Stadt Stuttgart) · Ansprache am 15.03.2008 · Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“
Wir gedenken heute – das erste Mal in Stuttgart an diesem Ort und zu diesem Datum – der Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an Sinti und Roma. Ich bedanke mich für die Gelegenheit, zu diesem Anlass heute zu Ihnen sprechen zu dürfen als Vertreterin der Landeshauptstadt Stuttgart und ihrer Bürgerinnen und Bürger sowie der erschienenen Stadträte.
An diesem denk-würdigen Tag bei Ihnen zu sein, entspringt meiner persönlichen Überzeugung, soll aber auch dokumentieren, dass die Stadt zum Thema der Deportation der württembergischen Sinti und Roma klar Stellung bezieht.
Die Verfolgung und Ermordung Hunderttausender von Sinti und Roma nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in den von Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten ist ein furchtbares Verbrechen. Es markiert wie die Ermordung von Juden, von politisch Andersdenkenden, Homosexuellen und Behinderten das grauenvollste Kapitel deutscher Geschichte. Das Leid, das damit über unzählige Familien gebracht wurde, entzieht sich auch heute noch unserem Vorstellungsvermögen. Es kann nur von den Verfolgten und Misshandelten selbst und ihren Angehörigen wirklich ermessen werden.
Unter uns sind heute Überlebende und Nachkommen derer, die den nationalsozialistischen Verbrechen zum Opfer fielen. Unter uns sind ebenfalls Vertreter der Organisationen der deutschen Sinti und Roma. Gemeinsam wollen wir des Tages gedenken, an dem von diesem Ort aus 234 Sinti aus ganz Baden-Württemberg in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau abtransportiert wurden.
Hass und Vorurteile Sinti gegenüber sind 1933 keineswegs aus dem Nichts heraus entstanden. Die Geschichte der Sinti in Deutschland ist originär mit einer Geschichte sozialer Ausgrenzung und obrigkeitsstaatlicher Reaktion hierauf verbunden.
Nach dem Ende des Kaiserreiches begann man von staatlicher Seite, die hohen Kosten der „wandernden Asozialen” für die Volkswirtschaft zu berechnen. Mit diesem neuen Begriff „asozial” wurden die Debatten vorbereitet, die der Nationalsozialismus aufnahm. Das Kriterium „soziale Nützlichkeit” wurde zu einem dominanten Wertmaßstab und schließlich als Legitimation für Zwangsarbeit, Sterilisation und Vernichtung missbraucht.
Bis in städtische Verwaltungen hinein wirkten Vorurteile und Stereotype. So bestimmte das Stuttgarter Wohlfahrtsamt im Jahr 1938 und ich zitiere: „Zigeuner gelten ausnahmslos als asozial. Die Fürsorge für Zigeuner ist daher in jedem Fall auf das Mindestmass zu beschränken. Zusätzliche Leistungen und Vergünstigungen werden nicht gewährt.”
Es hat – auch daran soll heute erinnert werden – nach dem Ende des Dritten Reiches lange, viel zu lange gedauert, bis den Sinti und Roma die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus zuteil wurde. Gerichte begründeten Repressionen gegen Sinti und Roma mit “kriminalpräventiven” Maßnahmen und leugneten bis zur Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine rassische Verfolgung. Die Feindbilder der nationalsozialistischen Ideologie wirkten auch in der jungen Bundesrepublik bis in höchste Gerichts- und Verwaltungsebenen hinein.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts nimmt uns Deutsche in die Pflicht. Gedenken darf aber keine Pflichtübung sein. Deshalb müssen wir uns auch die unbequemen Fragen stellen lassen. Wir müssen bereit sein, den Blick immer wieder neu auf unsere Geschichte zu richten und sie kritisch zu hinterfragen. Vor allem aber müssen wir prüfen, welche Lehren wir aus ihr gezogen haben und ob wir diese Lehren in unserem heutigen Denken und Handeln beherzigen.
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam die Erinnerung an das furchtbare Geschehen von vor 65 Jahren wach halten. Initiativen wie Ihre Stolpersteine, sehr geehrter Herr Demnig, und Schulprojekte, wie Sie eines durchgeführt haben, sehr geehrte Frau Greth, helfen uns dabei, dass wir mit unseren Kindern über die unheilvolle Geschichte des Dritten Reiches ins Gespräch kommen und über die Folgen von Ausgrenzung und Rassenhass aufklären können.
“Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich.” Sie, sehr geehrte Frau Franz, haben diesen Satz zum Leitmotiv Ihres Buches gemacht. Wir spüren, dass Ihnen diese Worte das Überleben und Weiterleben erst möglich gemacht haben. Ich danke Ihnen, dass Sie als Zeitzeugin berichten und helfen, uns der Vergangenheit zu erinnern. Mit der versöhnlichen Botschaft Ihrer Worte weisen Sie uns den Weg, den wir gemeinsam beschreiten wollen.
Lassen Sie uns gemeinsam gegen Gleichgültigkeit und Vergessen angehen. Gedenken wir gemeinsam der Kinder, Frauen und Männer, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ermordet, durch Zwangsarbeit getötet oder in den besetzten Gebieten feige erschossen wurden. Gedenken wir derer, die ausgegrenzt, verfolgt und misshandelt wurden.
Ich danke Ihnen.
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