Dr. Stephan M. Janker (Diözesanhistoriker Rottenburg) · Ansprache am 15.03.2008 · Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“
Die Deportation der Württemberger Sinti aus Stuttgart am 15. März 1943
Ende Januar 1943 ratterte in der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart der Fernschreiber. Mit geheimem Schnellbrief vom 29. Januar, gab das Reichssicherheitshauptamt Berlin den Leitern der Kriminalpolizeileitstellen neue Direktiven bekannt, die die letzte Phase der NS-Zigeunerpolitik einleiteten.
Auf Befehl des Reichsführers-SS und Chefs der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, vom 16. Dezember 1942, so hielt der Schnellbrief fest, seien zunächst „Zigeunermischlinge, Ròm-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen […] familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz” einzuliefern.
Wer – den Richtlinien gemäß – von der Einweisung in das Konzentrationslager ausgenommen würde, sollte angehalten werden für sich bzw. für seine über 12 Jahre alten Kinder, die „Einwilligung zur Unfruchtbarmachung” zu geben.
Über die Behandlung der „reinrassigen” Sinti und der „als reinrassig geltenden Lalleri-Zigeuner-Sippen” wollte der Reichsführer-SS später entscheiden.
Damit war die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage” – so eine Forderung Himmlers von 1938 – oder aber dessen Ankündigung von 1939, „die Zigeunerfrage im Reichsmaßstab grundsätzlich” zu regeln, noch vor Kriegsende wieder in die Gänge gekommen. Innerhalb einer Generation sollte es keine „Zigeuner” mehr geben.
Der Befehl lautete, mit der Vorbereitung sofort zu beginnen, da die Aktion am 1. März anlaufen und Ende März abgeschlossen sein sollte.
In nur einem Monat wurden so über 12.000 Sinti und Roma aus dem ganzen Reich nach Auschwitz-Birkenau deportiert; in den neuen Lagerabschnitt B II e, der seither „Zigeunerlager” genannt wurde.
Nach unseren jüngsten Forschungen kamen im Rahmen der Märzdeportationen fünf Transporte aus dem heutigen Bundesland Baden-Württemberg nach Auschwitz mit insgesamt 460 Menschen.
Der erste und größte davon, war der „Stuttgarter Transport”, der heute vor 65 Jahren Stuttgart verließ: mit 234 Sinti aus dem damaligen NS-Gau Württemberg-Hohenzollern. Ihm folgten zwischen dem 21. und 25. März vier weitere Transporte aus dem Gau Baden: ein Mannheimer Transport, der Mosbacher und ein weiterer Transport aus Nordbaden, sowie der mit Sinti und Roma aus Südbaden und Karlsruhe organisierte Deportationszug.
Für die erfolgreiche Umsetzung der Aktion im Bereich der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart, war deren Chef, Sturmbannführer Oberregierungs- und Kriminalrat Paul Eisner verantwortlich.
Ihm war mit Sicherheit nicht entgangen, dass den Kripo-Leitstellen für die bevorstehende Aktion weitergehende Entscheidungsbefugnisse eingeräumt wurden als üblich.
So war die Auswahl der Personen in Stuttgart zu treffen und: diesmal bedurfte es auch keiner Haftbestätigung durch das Reichskriminalpolizeiamt Berlin.
Die erste nachweisbare Maßnahme war ein Schreiben an die Landräte, in ihrer Funktion als Polizeichefs und zwar zur „Feststellung des jetzigen Aufenthaltsortes der Zigeuner und Zigeunermischlinge in Württemberg und Hohenzollern”.
Der Bürgermeister von Waldmössingen hatte nur eine sogenannte zigeunerische Person in seiner Gemeinde. Seine Rückmeldung datierte bereits vom 3. Februar 1943.
Die diesmal initiierte, landesweite Erfassung diente zur Auswahl in die schon angedeuteten drei Gruppen: die Gruppe derjenigen, die nach Auschwitz deportiert werden sollten; die Gruppe derjenigen, die zurückbleiben und sterilisiert werden sollten und in die Gruppe der „reinrassigen Zigeuner”.
Wer traf die Auswahl? In einer Zeugenaussage äußerte sich dazu der damalige Leiter des Erkennungsdienstes der Kripo Stuttgart, Kriminalkommissar Max Eberhart: „Soweit ich mich erinnere, wurde die Abschiebung nach bestimmten Voraussetzungen angeordnet. … Meine Dienststelle musste dann bei den Zigeunern des ganzen Landes prüfen, inwieweit diese Voraussetzungen auf den einzelnen Zigeuner zutrafen.”
Wenn Eberhart von seiner „Dienststelle” spricht, meinte er damit vorrangig die ihm unterstellte „Dienststelle für Zigeunerfragen”, die seit 1940 ein gewisser Kriminalsekretär Adolf Scheufeie geleitet hat. Den „Scheifele in Stuttgart, bei de Kriminaler”, in der „Büchsenschmiere”, den kannte damals fast jeder erwachsene Sinto im Lande, da das Wohl und Wehe jeder Sintifamilie weitgehend von seinen täglichen Entscheidungen abhing.
Nachdem die Auswahl getroffen, die Listen erstellt, die Haftunterlagen vorbereitet, der Verschub mit dem Fahrplan- und Wagenbüro der Reichsbahndirektion Stuttgart ausgearbeitet war, lief am Samstag, den 13. März die Verhaftungswelle an.
„Da hen sie eine Durchreise g’macht … Des war alles in a paar Tag und Nacht im März ’43″ – erzählte später Lolo Reinhardt.
Es ist in der gebotenen Kürze der Zeit freilich nicht möglich, die diesbezüglichen Erlebnisse und mannigfaltigen Begebenheiten von denen die Zeitzeugen berichten, auf einen Nenner zu bringen.
In 30 Orten, landauf, landab, wurde gepackt und Abschied genommen. In Reutlingen sagte man Maria Winter: „Deine Leute … kommen alle in die Lüneburger Heide, dort werden kleine Häuser gebaut, jeder kriegt ein bischen Landwirtschaft, dort können sie sich dann selber ernähren”. Gleiches, diesmal mit der Variante Polen, wurde in Weil im Schönbuch verbreitet. Anders begründete ein Polizeibeamter in Stuttgart die Verhaftung mit dem Hinweis „Arbeitseinsatz” und der am Güterbahnhof befragte Soldat sagte nur ein Wort: „Umsiedlung”.
Die Menschen wurden in aller Frühe aus den Betten gejagt, wie in Ravensburg und Schorndorf, oder vom Arbeitsplatz weggeholt, wie in Sindelfingen oder Stuttgart.
Von besonnenen Bürgermeistern und dem vergeblichen Bemühen der Betriebsleiter kann man ebenso lesen, wie von der Gleichgültigkeit der Nachbarn, von Denunziation und Verrat, bis hin zur enthemmten Wut örtlicher Parteigenossen. Berichtet wird von Fluchtversuchen und einer ersten Erschießung; den dramatischen Abschiedsszenen, vom Schreien der Kinder; von zurückgelassenen Familienvätern, die zusammenbrachen, als Stille einkehrte.
Die am Samstag in Vorbeugungshaft Genommenen mussten das Wochenende in den örtlichen Gefängnissen verbringen und wurden, wie die am Montag Verhafteten, unter Polizeiaufgebot nach Stuttgart transportiert: mit regulär verkehrenden Personenzügen, mit Omnibussen und der „Grünen Minna”, dem Polizeilastkraftwagen. Kaum vorstellbar, wie viele Menschen an dieser „Aktion” beteiligt waren.
Was dann in Stuttgart geschah, davon erzählt uns in ganz schlichten Worten Frau Hildegard Reinhardt aus Ravensburg.
Sie hatte mit ihren drei kleinen Mädchen das Wochenende im Gefängnis Seestraße zugebracht. Am Montag, 15. März, saßen sie nun mit anderen in dem Personenzug, der fahrplanmäßig um 12 Uhr 28 in den Stuttgarter Hauptbahnhof einlaufen sollte:
„Vom Bahnhof mussten wir zum Polizeipräsidium marschieren. Und als wir dann dort ankamen, da waren schon so viele Leute drin – und es war gesteckt voll. Also die waren verschwitzt, die waren so zusammengepresst einfach, … einigen war schlecht. … […] Die Leute sind manchmal umgefallen vor lauter … Wir waren so arg mit uns selber beschäftigt, da konnten wir nicht mehr sehen, was da irgendwie los war. […] weil, wir hatten Angst gehabt, einfach Angst. Also wir haben schon gemerkt, dass was los war, dass mit uns was geschieht, was nicht richtig ist; das haben wir gemerkt. -
Im Polizeipräsidium … da haben sie doch protokolliert: was sie da gemacht haben, wer und wie viele da sind, so und so viele … […]
Ja, und dann hat man uns, mit Lastwagen zum Bahnhof gebracht, auf die Waggons verladen und da waren wir dann lange noch. Ich weis nicht, wie lange wir dort in den Viehwaggons gestanden sind, … mehrere Stunden bis alle so verladen waren und dann alles so registriert war alles. Soldaten sind an den Waggons auf- und abgelaufen, damit keiner durchbrennt.”
Nach Einbruch der Dunkelheit verließ der Güterzug mit seiner traurigen Fracht den Stuttgarter Güterbahnhof. Die älteste Teilnehmerin war 83 Jahre alt. Das jüngste Baby zwei Monate. – Mehrere Frauen schwanger. – Die Hälfte der Passagiere waren Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren!
Was geschah mit diesen Menschen, die dem Stuttgarter Transport angehört haben? Nach unserem gegenwärtigen Kenntnisstand haben kaum 15 Prozent das KZ-System überlebt.
Das ist die grauenvolle Bilanz dieser Deportation, die bislang, nicht nur in der Stadtgeschichte Stuttgarts, unbekannt war.
Lassen Sie mich schließen mit einem kurzen Appell des kroatischen Dichters Slavko Bronzic, in Anlehnung an sein Gedicht „To the reporter”
Weil eine Zahl keinen Namen hat
Und keine geraubte Zukunft
Berichte der Welt
Es waren
Irmgard aus Wilsingen und Agnes aus Burladingen
Und Siegfried aus Stuttgart und Anna aus Schramberg
Und Wilhelm aus Heilbronn und Natalie aus Ravensburg
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