Bürgermeister · Landeshauptstadt Stuttgart
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Schopper,
Sehr geehrter Herr Strauß,
Sehr geehrte Frau Professorin Traub,
Sehr geehrter Herr Keller,
„Ich habe keine gute Erinnerung an Stuttgart“. So Philomena Franz bei einem Zeitzeugengespräch im Jahr 1989. Vier Jahre zuvor war ihre Autobiographie mit dem Titel „Zwischen Liebe und Hass: Ein Zigeunerleben“ erschienen. Bei der Gedenkfeier zum Jahrestag der Deportation der Sinti und Roma vom 15. März 1943 vor zehn Jahren hat sie eindrucksvoll über ihren Leidensweg von Stuttgart nach Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück berichtet.
Die Erinnerung ist angesichts der furchtbaren Erlebnisse von Demütigung und Entmenschlichung für die Überlebenden eine schwere Last.
Ich zitiere Hildegard Franz: „Es war furchtbar grausam, ich kann das nicht beschreiben. Ich will nicht mehr daran denken, aber es geht nicht, niemals, ich kann es nicht vergessen“. Das Zitat stammt aus dem Band mit Berichten und Zeugnissen von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben, den Sie, sehr verehrter Herr Vorstandsvorsitzender Strauß, im Jahr 2000 herausgegeben haben: Dennoch sehen die Überlebenden die Verpflichtung, Zeugnis abzulegen für die Ermordeten. Nobelpreisträger Eli Wiesel hat das Paradox der Erinnerung aus der Perspektive der Opfer formuliert: „Schweigen ist verboten, Sprechen ist unmöglich“.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sollten uns dieses Zusammenhangs bewusst sein, wenn wir heute der Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma gedenken. Unsere Erinnerung ist letztlich nur möglich, weil Menschen wie Philomena und Hildegard Franz ihre Erinnerung ausgehalten haben. Wir können diesen Mut bewundern und müssen uns stets der andauernden Folgen bewusst sein. Denn wie die Forschung gezeigt hat, sind noch spätere Generationen davon gezeichnet und betroffen.
Inzwischen leben nur noch wenige Zeugen der Verbrechen an den Sinti und Roma. Umso mehr erwächst eine öffentliche Aufgabe.
Gesellschaft und Politik haben die Pflicht, das Zeugnis der Überlebenden anzunehmen, die Kultur und ihre Vermittlung zu unterstützen. Die – wenn ich es so formulieren darf – „Mehrheitsgesellschaft“ hat eine Verpflichtung gegenüber einer seit vielen Jahrhunderten in unserer Mitte und als Teil unserer Gemeinschaft lebenden Minderheit. Sie ist ein Teil unserer Geschichte. „Keine gute Erinnerung an Stuttgart“. Diese Aussage von Philomena Franz verweist uns darauf, dass Deportation und Vernichtung eine Vorgeschichte auch in unserer Stadt besitzen. Sie begann nicht erst mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten. Sinti und Roma hatten schon vor 1933 Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren.
Zwar bedeutete es eine grundlegende Veränderung, als mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung explizite staatliche Politik wurden. Erschreckend aber war und bleibt bis heute, dass der Weg in den Völkermord zu einem scheinbar normalen bürokratischen Vollzug wurde. Nicht anonyme Kräfte, sondern Menschen bewegten das Räderwerk des Völkermords, auch in unserer Stadt und auch in der Stadtverwaltung.
„Keine gute Erinnerung“. Dies gilt ebenso für die Geschichte der Sinti und Roma nach 1945; Antiziganismus wie auch sozialer Rassismus verschwanden nicht mit der NS-Herrschaft.
Die Praxis der sogenannten Wiedergutmachung war in hohem Maße defizitär: Lange Zeit galten Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma als selbst verschuldete Polizeimaßnahmen, nicht als NS-Unrecht und nicht als Vorstufen eines Völkermords.
Sogenannte „Landfahrerkarteien“ aus der NS-Zeit wurden über 1945 hinaus fortgeführt, die Daten pseudowissenschaftlicher Erhebungen der NS-Zeit an Universitäten weiter ausgewertet. Es dauerte bis in die 1990er Jahre, ehe allmählich der Völkermord an den Sinti und Roma sowie anderen „vergessenen Opfern“ über die Betroffenen und einige Fachkreise hinaus ins öffentliche Bewusstsein rückte.
So lange dauerte es auch, bis Gedenkorte sichtbar gemacht wurden – so 1994 in Stuttgart erstmals in einer Gedenktafel an der sog. Büchsenschmiere, damals Polizeigefängnis und Sitz der Kriminalpolizei-leitstelle, heute Evangelisches Bildungszentrum Hospitalhof.
Im Juni 2000 wurde im Foyer des Städtischen Jugendamts am Wilhelmsplatz nach einer Initiative der dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – und von diesen weitgehend finanziert – die Skulptur „Aktenordnung“ des Künstlers Wolfram Isele eingeweiht. Sie erinnert an 39 Sinti- und Roma-Kinder, die am 9. Mai 1944 mit nach Auschwitz deportiert wurden.
Für die Kinder bestand nach der Deportation der Eltern eine Amtsvormundschaft der damaligen Stuttgarter Jugendwohlfahrts-behörde; nur vier von ihnen überlebten. Und vor zehn Jahren hat das in der Erinnerungskultur sehr engagierte Stadtarchiv die Wander-ausstellung „Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma“ im Rathaus gezeigt und mit dem Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma ein umfassendes Begleitprogramm organisiert.
Heute erinnern wir erneut mit dieser Gedenkveranstaltung und im Anschluss mit der Eröffnung der Ausstellung „… weggekommen.
Abschied ohne Wiederkehr“ an den staatlich organisierten Völkermord an den Sinti und Roma, konkret an die Deportation vor 75 Jahren.
Die Ausstellung über den NS-Völkermord an den Sinti und Roma informiert uns eindrücklich über ein lange beschwiegenes Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte. Sie enthält auch die Aufforderung zum Handeln: Zum Hinsehen und zum Aufstehen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Dieser Satz darf heute keine wohlfeile Sonntagsrede sein. Er hat vielmehr eine drängende, ja bedrängende und beängstigende Aktualität. Rassistische Sprüche werden scheinbar salonfähig, finden Zustimmung und Wählerstimmen, wie wir dies wohl vor einigen Jahren so nicht mehr für möglich gehalten hätten.
Im 85. Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten sollten wir uns bewusst sein, dass totalitäre Systeme nur noch schwer zu überwinden sind, wenn sie erst einmal an den Schalthebeln der Macht sind und auch, dass nicht die Stärke der Gegner, sondern die Schwäche der Republik zu deren Untergang geführt hat.
Ich danke allen, die sich für diese Erinnerungsarbeit engagieren, nicht zuletzt den bürgerschaftlichen Initiativen. Heute gilt mein besonderer Dank dem Verein „Zeichen der Erinnerung“, Ihnen lieber Herr Keller als dem neuen, rührigen Vorsitzenden. Dem Verein und der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs bin ich dankbar, dass die Namen der ermordeten Sinti und Roma auf die „Wand der Namen“ in der Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ verzeichnet werden konnten.
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