Dr. Klaus Töpfer – Holocaust-Rede Stuttgart 15.06.2006
Stiftskirche Stuttgart
Veranstaltung zur Eröffnung der Gedenkstätte
„Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich auch erinnert, was noch zu tun ist.”
Der große Philosoph des Prinzips Hoffnung, Ernst Bloch, hat mit diesen Worten die Erinnerung in die Pflicht des Handelns genommen.
Die Ruinen, die dieser entsetzliche, wahnsinnige, von Hitler ausgelöste, entfesselte Krieg, dieser 2. Weltkrieg, hinterließ – in diese Trümmer war das Wissen, die Herausforderung, eingebunden, Zukunft zu gestalten –
Die erste Voraussetzung dafür ist, Erinnerungen zu haben.
Sich den Erinnerungen stellen; sich erinnern, was noch zu tun ist, das ist Grundlage für Hoffnung, für Handeln.
Was sind das aber für Erinnerungen, die es für uns heute immer und immer wieder fruchtbar zu machen gilt, fruchtbar zu machen für unser Handeln in Deutschland, in der globalisierten Welt?
Diese Erinnerungen – sie sind untrennbar verbunden mit den drei Wegmarken der Eskalation auf dem Weg zur Unmenschlichkeit:
Der erste Schritt – der Einstieg in die Eskalation – die Ausgrenzung, die Gleichschaltung:
„Juden raus”
Das Deutschland des Arier-Nachweises.
Ausgrenzung aus dem Deutschland der Vielfalt.
Die Hinnahme dieser Ausgrenzung, dieser Gleichschaltung durch die Gesellschaft, sicher auch Proteste der Einzelnen, diese aber weit überdeckend.
Die zweite Wegmarke der Eskalation:
Die Stigmatisierung.
Die Dämme der Menschlichkeit brechen.
Der Judenstern.
Die kollektive Kontaktsperre. -
Wieder kein Aufschrei, wieder viele willige Vollstrecker.
Dann das Inferno:
Der ungezählte, der kalkulierte, der verbrecherische Mord, der Massenmord.
Die Schienen der Verladerampe, die Gaskammern des KZ, die Wälder der gnadenlosen Exekution.
Dies sind die Erinnerungen, sind die schmerzenden Symbole der Erinnerung, sicherlich reduziert, konzentriert.
Zukunft gestalten vor dem Hintergrund dieser Erinnerungen?
Diese Erinnerungen fruchtbar machen, was noch zu tun ist, heißt sehr konkret:
Nie mehr weg sehen aus Feigheit, aus persönlichen Motiven, mit dem peinlichen Alibi nach dem scheinbar entlastenden Motto:
„Der Staat, die jeweils Anderen sind dafür verantwortlich – ich weiß nichts, ich tu nichts, ich wende mich ab. ”
Gesicht zeigen, wo andere den Rücken kehren:
Nicht abwenden – genau hinsehen.
Nie „No-go-Areas ” welcher Art auch immer hinnehmen.
Selbst vermeintlich unbedeutende Ansätze dazu sind eine Schande, ein Versagen eines jeden Einzelnen in dieser Gesellschaft.
Sind Verlust, sind Offenbarungseid gesellschaftlicher Verantwortung, sie wären ein Schritt erneut auf einer neuen Eskalationstreppe der Unmenschlichkeit.
Nicht:
Deutschland den Deutschen -
sondern:
Deutschland der Freiheit, der Toleranz, der Verantwortung.
Nicht:
Deutschland der Ausgrenzung, der Stigmatisierung -
sondern:
Deutschland der Offenheit, des Dialogs, des Handelns gegen Ungerechtigkeit
Sich nicht abfinden -
nicht abfinden mit dem dramatischen Unrecht in dieser Welt, in dieser Zweiteilung der Welt, in die, die verschwenden und die, die verenden.
Nicht abfinden mit der schrillen Dissonanz, dass in den reichen Ländern täglich mehr Lebensmittel als Abfall weggeworfen werden, als die 800 Millionen Hungernden dieser Welt benötigen, um satt zu werden.
Nicht die Achseln zucken, wenn täglich 5.000 Menschen, vor allem Kinder, sterben – weil sie keinen Zugang zu gesundem Trinkwasser haben.
Brücken bauen in der weltweiten Zusammenarbeit für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung in aller Welt, auch wenn es uns Opfer abverlangt, sehr relative Opfer vor dem Hintergrund des menschlichen Elends – das nicht hingenommen werden darf, weil es wieder ausgrenzt, weil wieder weggesehen wird – und vor dem Hintergrund unseres so oft verschwenderischen „Wohlstandes”.
Also Brücken bauen, nicht Mauern bauen um unsere Wohlstandsinseln, die ohnedies ohne bleibende Wirkung sein werden.
Sich nicht abfinden mit diesen ausgenutzten Afrikanern auf den Schiffen des menschlichen Elends, die an der Hintertür der Reichen an den Sonnenstränden der Kanaren Einlass suchen.
Zukunft gestalten in dem ganz konkreten Einsatz für eine Welt,
für eine Welt „in größerer Freiheit”,
„ in larger freedom “,
die Kofi Annan zum Leitmotiv seiner Botschaft zum 60jährigen Bestehen der Vereinten Nationen gemacht hat.
Handeln gegen den oft blinden Zorn über die kalte Reduzierung aller Werte allein auf den ökonomischen Nenner -
nicht abfinden damit, dass Globalisierung auf Kosten der spirituellen und kulturellen Vielfalt aufbaut.
Angehen gegen die mitleidslose und rücksichtslose Demonstration der Wohlstandsunterschiede – in schrillem Kontrast zur Hoffnungslosigkeit, zu den fehlenden Lebenschancen der überwältigenden Mehrheit der jungen Menschen dieser Welt.
Wir bereiten den Boden für den Terror, für Unfrieden, für Unmenschlichkeit -
wenn wir die schreienden Ungerechtigkeiten der Lebenschancen in dieser Welt hinnehmen, ja sie sogar sehenden Auges verstärken.
Wieder blicken wir nur zu gerne weg, wieder sind alle anderen Schuld und verantwortlich – nur nicht wir.
Zukunft gestalten angesichts der Verladerampen -
Dies fordert: Abreißen der geistigen Mauern, die um die Hirne so Vieler hochgezogen wurden – Stein für Stein, am Anfang oft fast unbewusst.
Mauern aus der dumpfen Angst vor der komplexen, vielfältigen Welt.
Mauern, die keinen Blick mehr zulassen für die großartigen Chancen gerade junger Menschen in dieser Zeit, die damit keinen Ansporn geben für die Übernahme der eigenen Verantwortung, für die Herausforderung, für die friedliche Zukunft.
Diese Mauern um die Hirne -
sie verlocken stets zum Simplen, sind „Mistbeete” für die schlimmen Vereinfacher, den „terrible simplificateur”
und sie spiegeln diese Verlockung wider.
Diese Reduktion auf die simple Antwort – sie macht stets offen für den Missbrauch des Menschen – missbräuchlich zu instrumentalisieren zum Radikalen, zum Zuschlagen, zur Ausgrenzung, zur Stigmatisierung, zum „Nigger”, zur Unmenschlichkeit.
„No-go-Areas”
entstehen in unseren Hirnen, in der Neigung, auf Vielfältiges einfältige Antworten zu geben, aus der Versuchung, dem süßen Gift der Gedankenlosigkeit Raum zu geben.
Gesicht zeigen – hinstehen:
Nicht den Rücken kehren – nicht unbeteiligt weggehen, weglaufen
vor dem tagtäglichen kleineren, oft aber brutalen Terror, der Intoleranz,
auch in den Straßen unserer Städte,
im Alltag unserer Schulen.
Gesicht zeigen – einstehen:
gegen den Terror, gegen die Radikalität in der weltweiten Politik unserer Tage,
gegen den Rassismus,
gegen den Fanatismus,
den Missbrauch der Ideologien,
die fehlgeleiteten religiösen Eiferer.
Hinstehen:
gegen den verbalen Terror,
für das Existenzrecht und für den Frieden aller Menschen in ihren Staaten,
besonders der Menschen, die in diesem für so viele weltweit „heiligen Land” leben.
Gesicht zeigen -
Verantwortung übernehmen, sich der Verantwortung stellen -
in der Zivilgesellschaft, besonders aber auch bei der Übernahme von politischer Verantwortung in einer offenen Demokratie.
Für jeden Einzelnen sicherlich oft eine Herkules-Aufgabe -
leichter in Reden einzufordern, als in dem alltäglichen Leben zu verwirklichen. -
Friedrich Schorlemmer hat dies so beeindruckend aufgezeigt.
Der große Deutsche, Hans Jonas, dieser Philosoph unseres, des technologischen Zeitalters, hat in seinem epochalen Werk „Das Prinzip Verantwortung ” seinen kategorischen Imperativ herausgearbeitet:
„Handele so, dass die Konsequenzen Deines Handelns in Einklang sind mit der weiteren Existenz menschlichen Lebens auf diesem Planeten!”
Er hat dieses „Prinzip Verantwortung” nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in seine Heimatstadt Mönchengladbach tief durchdacht und sorgfältig niedergeschrieben – sein Vermächtnis, seine Konsequenz aus der von ihm, von allen Juden und vielen anderen Menschen dieser Welt durchlittenen Zeit der Unmenschlichkeit. Er schrieb es nicht angesichts materieller Trümmer, sondern in den geistigen Trümmern Deutschlands.
„Erinnerungen haben, sich ihnen stellen, um Zukunft zu gestalten – sich erinnern, was noch zu tun ist” -
Geistige Trümmerarbeit also -
oft und immer wieder eine wesentlich schwerere Aufgabe als die Beseitigung von materiellem Schutt und Asche.
Eine Arbeit, deren Ergebnis stets gefährdet bleibt,
die nie abgeschlossen ist,
die man nicht dem jeweils Anderen überlassen, überantworten kann und darf,
die nicht zu verschieben ist – immer wieder auf morgen und morgen und morgen.
Diese geistige Trümmerarbeit:
gefährdet meist nicht durch den brutalen Frontalangriff, gefährdet vor allem durch die schleichende Erosion -
den fast unbemerkten Wandel von Begriffen, von Argumenten, vom Umgang im Leben miteinander und nebeneinander.
Vom Leben in der Nachbarschaft der heimatlichen Straße ebenso wie vom Leben im „global village”, dieser unserer globalisierten Welt.
Diesen Gefährdungen müssen Zeichen entgegengesetzt werden,
unübersehbare Zeichen, die schmerzen können, die schmerzen sollen.
Die Verladerampen am Nordbahnhof in Stuttgart – sie können, ja sie müssen ein solches schmerzendes Zeichen sein, das Handeln bewirkt.
Nicht reduziert oder gar abgetan mit der bohrenden Frage:
„Warum erst jetzt?”
sondern verstanden aus der bleibenden Verpflichtung des „Prinzips Verantwortung”
„Gerade jetzt!”
Als ständiges Ausrufungszeichen, dieses „Prinzip Verantwortung” konsequent zu leben.
Ich verneige mich in bleibender Trauer vor den Opfern, den Geschundenen, den Ermordeten.
Ich sage in hohem Respekt denen Dank, die hier in Stuttgart Erinnerung fruchtbar werden ließen für die Gestaltung von Zukunft, für mehr als Hoffnung, für das „Prinzip Verantwortung” – was noch zu tun ist.
Mein Respekt gilt denen, die unruhig bleiben, wo andere einfach vergessen wollten oder wollen.
Ich danke denen, die sich nicht mit der Ausflucht zufrieden gaben:
„Dies ist doch alles Vergangenheit, damit haben wir doch gar nichts mehr zu tun!”
Die sich für „Zeichen der Erinnerung” engagierten – die handelten – die den Tatort zum Sprechen brachten – und damit mehr als nur ein Denkmal schufen.
Mein Respekt, mein Dank gilt besonders Herrn Professor Roland Ostertag!
Mein Respekt gilt all’ denen, die dieses Zeichen der Herausforderung zum Handeln setzten, weil Vergangenheit dann gefährlich wird, wenn sie, besonders aus geistiger Bequemlichkeit, beständig als Vergangenheit zur Seite geschoben wird.
Unter der Leitung von Helmuth Rilling musizierten Solisten, die Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium Stuttgart Teile aus der „Messe h‑Moll“ BWV 232 von Johann Sebastian Bach
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