Diözese Rottenburg – Stuttgart
Sehr geehrte Damen und Herren!
Der jüdische Schriftsteller, Elie Wiesel, der als junger Mann die Hölle von Auschwitz und Buchenwald überlebte, prägte den Satz: „Nur die Erinnerung stoppt den Wahnsinn.“ Erinnern ist der Schlüssel und die einzige Chance, um nicht zu vergessen. Denn Vergessen kommt dem Ungeschehen-Machen gleich.
Wir gedenken der Opfer durch Gedenktage, wie dem heutigen. Im August 1942 wurden unschuldige Menschen durch die Stuttgarter Straßen geführt, vorbei an Häusern, Wohnungen und Kirchen. Hier am Nordbahnhof wurden sie zusammengetrieben und in Züge gepfercht. Insgesamt wurden von hier aus zwischen 1941 und 1945 mehr als 2.600 Jüdinnen und Juden aus Stuttgart, Württemberg und Hohenzollern deportiert – Frauen, Männer und Kinder jüdischer Abstammung, Menschen mit jüdischen Familienangehörigen. – Ihr unausweichliches Ziel: das Konzentrationslager Theresienstadt oder das Vernichtungslager Auschwitz.
Dort, ebenso wie an vielen anderen Orten, deren Namen uns in Zusammenhang mit der Schoah in Erinnerung bleiben, nahm das Grauen solch vernichtende Züge an, dass wir es in seiner Monstrosität kaum begreifen können.
Es fällt mir schwer, Worte zu finden. Weil mir bewusst ist, dass Worte, die die Gräuel beschreiben, unzulänglich sind. Und dennoch ist es wichtig, dass wir sprechen.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir erinnern an Menschen, die von hier aus – vom Stuttgarter Nordbahnhof – in den Tod geschickt wurden. Sie würden anonym bleiben, ja der ganze Ort hier würde anonym bleiben, würden Überlebende nicht bis heute Gesicht zeigen, wie Sie, Herr Fabian. Ihr Zeugnis hält die Erinnerung an den 22. August 1942 wach.
Die Opfer würden anonym bleiben, wären ihre Namen nicht hier in Beton unauslöschlich und bleibend eingemeißelt. Nun kommen 435 Namen hinzu.
Welche Gedanken und – wenn sie gläubig waren – welche Gebete mögen die Menschen in den Zügen begleitet haben? Verzweifelte Hilferufe – stumm oder laut ausgeschrien. Klagegebete an Gott, der einzig ist und unser gemeinsamer Gott ist, der Gott, den Jesus Christus „Abba“ – „Vater“ nannte? Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, der die Menschen ins Leben gerufen hat als sein Abbild, damit sie in Liebe und Frieden miteinander leben.
„Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Heißt es in Psalm 22 – Dieser Klagepsalm ist jüdischen und christlichen Gläubigen gleichermaßen vertraut. Ganz seiner jüdischen Herkunft folgend, hat Jesus Christus diese Worte in seiner Todesstunde auf den Lippen. „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“
Ich zitiere noch einmal Elie Wiesel. In seinem Roman „Die Nacht“ schildert er die Ermordung eines Kindes. Während seines langen Todeskampfs schwieg das Kind. Wiesel hört eine Stimme hinter sich: „Wo ist nun Gott?“ Und er fährt fort: „Eine Stimme in mir sagte. Er hängt am Galgen“. Elie Wiesel sagt: „Man kann das Grauen nicht mit Gott begreifen, aber man kann es auch nicht ohne Gott begreifen.“
Mehr denn je müssen wir heute wieder innehalten und fragen: Wie sieht es aus mit der Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft? Was tun wir, damit sich diese Taten nie wiederholen? – Vor allem weil immer weniger Zeitzeugen ihre Geschichte erzählen können, weil die Erinnerung zu verblassen droht. Dies veranlasste den Schriftsteller Navid Kermani zu sagen: „Damit sich überhaupt eine Erinnerung ins Herz brennt, auf die sich die Mahnmahle, Stolpersteine, Gedenkrituale beziehen, wird es für künftige Generationen noch wichtiger sein, mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen Deutschland die Würde des Menschen zermalmte, jene Länder zu bereisen, die es mit Blut tränkte.“
Gerade in den letzten Monaten haben wir erlebt, dass antisemitische Parolen wieder laut ausgesprochen, dass Anschläge, der Hass und die Gewalt auf unsere jüdischen Geschwister zunehmen. Die Alltäglichkeit, in der sich all dies verbreitet, kann uns heute nicht mehr entschuldigen. Denn von der Erinnerung her wissen wir, wohin dies führen kann.
Anlässlich des 75. Gedenkens der Befreiung von Auschwitz im Januar 2020 sagte unser Bundespräsident Frank Walter Steinmeier: „Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse.“ – Diese Worte können nicht anders, als uns Mahnung und Warnung zu sein!
Liebe Schwestern und Brüder!
In Zukunft können wir uns nicht mehr herausreden. Denn im Erinnern wissen wir, wohin unser Wegsehen führen kann, aber auch, was wir durch unser Hinsehen verhindern können.