Evangelische Landeskirche Württemberg
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter, lieber Herr Fabian,
wir sind hier nur wenige Meter von der evangelischen Martinskirche am inneren Nordbahnhof zusammengekommen – in der Otto Umfrid Straße. Sie heißt nach dem Kollegen, der hier und in der Erlöserkirche von 1890–1913 als Stadtpfarrer tätig war. Voller Überzeugung hatte er sich für eine Friedensordnung für die Völker Europas eingesetzt. Und das in Zeiten, in denen sich der Nationalismus immer lauter und aggressiver in den europäischen Gesellschaften zu Wort meldete – besonders bei uns in Deutschland. Otto Umfrid ließ sich durch den öffentlichen Druck nicht einschüchtern. Seine Gegner verunglimpften ihn als „Friedenshetzer“. Hellsichtige Zeitgenossen schlugen ihn dagegen 1913 für den Friedensnobelpreis vor.
Als Bischof der Evangelischen Landeskirche möchte ich heute an Otto Umfrid erinnern – nicht zuletzt im Andenken an seinen Sohn Hermann. Als junger Pfarrer war er bemüht, die Stimmungen unter den Mitgliedern seiner Gemeinde und in der Gesellschaft wahrzunehmen und sie auch in seiner Gemeindearbeit zu würdigen.
Als aber auswärtige SA-Leute am 25. März 1933, einem Schabbat, jüdische Bürger im fränkischen Niederstetten, dem Ort, in dem er als Pfarrer tätig war, brutal misshandelten, protestierte er in seiner Sonntagspredigt offen gegen diesen Pogrom und gegen die Willkür und Missachtung des Rechts.
Wie schon sein Vater wurde auch Hermann Umfrid von den Verantwortlichen in der württembergischen Landeskirche nicht unterstützt. Das erfüllt mich mit Scham und zeigt, dass es auch eine christlich motivierte Judenfeindlichkeit gab und leider auch bis heute gibt. Deshalb können wir nicht wachsam genug sein! Hermann Umfrids Appell blieb ungehört. Vereinsamt und verbittert nahm er sich 1934 das Leben. Die Schikanen der großen und kleinen Nazis hatten ihn zermürbt.
„Verunsichernde Orte“ – unter diesem Leitbegriff arbeiten die Gedenkstätten in unserem Land. Die Stolpersteine, die in Stuttgarter Straßen verlegt sind; die Geißstraße oder das Hotel Silber; die Plakette an der Martinskirche oder der Weg vom Mahnmal auf dem Killesberg hierher zum Zeichen der Erinnerung: Orte, die zu denken geben: Nichts ist selbstverständlich!
An diesen Orten begegnen wir den Namen von realen Menschen. Sie verbinden sich mit Lebensgeschichten, von Brüdern oder Schwestern, die gehofft und geglaubt, gelacht und geweint haben. Ihre Namen regen unsere Fähigkeit zum Mitgefühl an. Mitgefühl mit den Opfern des Hasses auf Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, und Mitgefühl mit Menschen, die getötet wurden, weil sie krank oder behindert waren.
Ihre Namen verbinden sich aber auch mit den anderen Namen. Den Namen derer, die Feindbilder und Hass geschürt, die ausgegrenzt haben. Mit den Menschen, die einfach weggesehen und geschwiegen haben. Und mit denen, die die so Ausgegrenzten skrupellos ermordet haben. Die Namen der Täter – sie führen uns wohl öfter, als wir uns das eingestehen, in die Familien, aus denen wir selbst stammen.
Gibt es denn dann überhaupt Orte in unserer Stadt, die nicht verunsichern? Namen und Familien, die nichts als Heimat und Geborgenheit vermitteln?
Ja: Es erschüttert, wenn wir davon mehr und mehr wissen, verunsichert eben – und das ist wichtig! Denn: Nichts ist selbstverständlich!
Otto und Hermann Umfrid, deren Familienname diese Straße trägt, taugen nicht als Heroen. Beide haben das nicht gesucht. Aber sie stehen für entschiedenes Handeln. Sie stehen für den Mut, dem Bösen zu widerstehen.
Zu dieser Gewissheit sollen uns Orte und Veranstaltungen wie heute führen:
Nicht wegschauen, sondern die Stimme nutzen, die mir mein Schöpfer gegeben hat, um den heutigen Hasspredigern und Lügnern entschlossen zu widersprechen;
Die Stimme nutzen, um die zu stärken, die eingeschüchtert und gedemütigt werden, und die vielen Stillen zu ermutigen, sich nachdrücklich für Recht und Gerechtigkeit, Menschenwürde und Menschlichkeit auszusprechen.
Denn nichts ist selbstverständlich!
Im November 2018 hielt Pfarrerin Monika Renninger zwei Predigten in der Hospitalkirche über Vater und Sohn Umfrid. Beide Predigten und weitere Unterlagen zu Otto und Hermann Umfrid sind hier zu finden.