Mit 2 Veranstaltungen haben wir der Deportation am 26.04.1942 nach Izbica gedacht.
24.04.2022 · 16:30 Uhr im “Zeichen der Erinnerung”
Ansprache Bärbel Hornberger-Fehrlen:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Eines der wichtigsten Gebote der hebräischen Bibel lautet:
„Erinnere dich!“
und es ist dort von einem ägyptischen Herrscher die Rede, von einem Pharao, dem es zum Verhängnis wurde, dass er sich nicht erinnert hat. Es wird von ihm gesagt, dass „er von Josef nichts wusste“, mit anderen Worten, dass er seine Geschichte nicht kannte. Ein vernichtendes Urteil über einen Politiker, über einen Menschen, „dass er nichts über seine eigene Geschichte weiß“. Er kann sich nicht erinnern, kann nichts lernen aus seiner Geschichte, nicht aus dem Guten, was seine Vorfahren getan haben und auch nichts aus ihren Fehlern.
Erinnere dich!
Das deutsche Wort „erinnern“ kommt ursprünglich von inne werden, sich einer Person oder einer Sache nähern. Das Erinnern möchte die Personen im Herzen bewegen. Im französischen drückt erinnern, mit se rappeler übersetzt, aus, dass man etwas oder jemanden zurückrufen möchte und das Englische re-member möchte die Vergessenen wieder zu einem Mitglied einer Familie, einer Gruppe, eines Volkes machen.
Erinnere dich!
Der Ort, an dem wir uns gerade treffen, die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ kann durchaus als Antwort auf dieses biblische Gebot verstanden werden. Wir erinnern uns an Tausende von Opfern, die in der Zeit des Nationalsozialismus ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden.
Hier am Inneren Nordbahnhof wurden Menschen von Stuttgart aus in die Todesfabriken der Nazis deportiert.
Erinnere dich!
Heute gedenken wir speziell der Deportation, die sich am kommenden Dienstag zum 80sten Mal jährt.
Am 26. April 1942 wurden 441 Jüdinnen und Juden von hier nach Izbica deportiert. Es überlebte niemand. Ein Baby war am Tag der Deportation 19 Tage alt. Unter den Deportierten waren auch 143 Stuttgarter Nachbarinnen und Nachbarn.
Liebe Nachbarinnen, liebe Nachbarn, wir erinnern uns.
Wir erinnern uns, weil die Erinnerung etwas mit dem Menschsein, mit der Humanität zu tun hat, auch das lehrt uns die hebräische Bibel. Wer sich an die Vergangenheit erinnert und aus ihr lernt, der übernimmt Verantwortung für die Zukunft.
Wir erleben ganz aktuell, was es bedeuten kann, wenn Politiker über die Geschichte nichts wissen wollen, sich nicht an die Grausamkeit von Kriegen erinnern und nicht an die Bemühungen um den Frieden. Ein Volk, das meint, es gäbe nichts Erinnerungswürdigeres als Siege, Macht und Stärke, Politiker, die denken, es gäbe nichts Wichtiges vor ihrer Zeit, werden es schwer haben eine lebenswerte Zukunft für alle zu gestalten.
Erinnere dich!
Als Deutsche haben wir es nicht leicht mit der Erinnerung, denn mit dem Gedenken der Opfer kommt auch das Wissen um die Taten unserer Mütter und Väter. Vor unseren Augen stehen Opfer und Täter. Da braucht es Mut zur Erinnerung, Mut sich der Scham zu stellen, besonders wenn wir wahrnehmen müssen, dass sich auch in unserer heutigen Gesellschaft Antisemitismus breitmacht. Es braucht Mut, dies anzuschauen und ihm entgegenzutreten.
Im biblischen Sprachgebrauch sind mutige Menschen solche, die ihre Kraft zusammennehmen, die fest stehen und das Herz nicht sinken lassen, die ein „festes“ Herz haben. Mut haben ist Herzenssache. In der deutschen Sprache kennen wir mutige Menschen als beherzte Menschen, als Menschen, die sich ein Herz fassen. Von der französischen Sprache haben wir das schöne Wort „Courage“ entlehnt, es kommt von coeur – Herz. Und das Englische spricht vom „Mut haben“ als „to take heart“. Spracherbstücke biblischer Erkenntnis und Weisheit.
Erinnere dich, sei couragiert, fasse dir ein Herz!
Dieser Ort hier möchte ein Zeichen sein dafür, dass wir bereit sind, uns zu erinnern, uns ein Herz zu fassen und anzuschauen, was geschehen ist und auch was heute geschieht. Ein Zeichen für eine Gemeinschaft, in der niemand vergessen wird. Von hier aus soll deutlich werden, dass hinter all den Namen auf dieser Wand, Personen stehen, die zu uns gehörten und gehören. Auch deshalb geben wir die Suche nach Namen nicht auf, von denen wir bisher noch keine Kenntnis haben. Deshalb wird die Namenswand bald um mehr als hundert Namen reicher werden. Namen von Menschen, von denen wir erst jetzt erfahren haben.
Niemand überlebte die Deportation vom 26. April 1942 vom Killesberg über den Inneren Nordbahnhof nach Izbica. Auch deshalb wissen wir wenig – es gab niemanden, der uns berichten, niemanden, der von Mitleidenden erzählen, niemanden, der ihre Namen bewahren konnte.
Die Bibel sagt, Namen sollen das Wesen einer Person zum Ausdruck bringen, Namen seien kleine Offenbarungen. Sie zeigen die Zugehörigkeit eines Menschen, deuten auf eine Familie, auf ein Volk. Wenn ein Mensch einen Namen hat, dann weiß er: ich bin kenntlich, jemand gab mir einen Namen, man kann mich ansprechen. Die Auslöschung eines Namens steht für den Versuch, die Person verschwinden zu lassen. Wir erinnern uns, dass die Nazis die Eigennamen der Jüdinnen und Juden zuerst mit einem zusätzlichen Namen entwertet und in einem weiteren Schritt durch eine Nummer ersetzt haben.
Dem tritt unser Gedenken entgegen.
Heute wollen wir ganz besonders die Personen bewahren, die am 26. April vor 80 Jahren in den Tod gebracht wurden. Sie waren und bleiben unsere Mitmenschen, unsere Nachbarinnen und Nachbarn.
Deshalb werden wir jetzt stellvertretend für alle damals Deportierten einige Namen der Stuttgarter Nachbarinnen und Nachbarn verlesen.
Wir erinnern uns an sie.
Lesung von 24 Namen, die für die mehr als 440 Menschen stehen, die am 26. April 1942 nach Izbica deportiert wurden:
Aus Stuttgart – Ost
Erna und Max Berenz mit den Kindern Manasse, Abraham und Bela
Aus Stuttgart – Süd
Walter Guttmann und Max und Ida Schweizer
Aus Stuttgart – West
Benedikt Kaufmann und Leopold und Elisabeth Einstein mit ihrer Tochter Inge
Aus Stuttgart – Nord
Erna Sussmann, Julius Stern und Siegfried Hess
Aus Stuttgart – Mitte
Moritz Olonetzky, Lore Ostertag und Selma Weil
Aus Bad Cannstatt
Alexandrine und Ferdinand Guggenheim und ihr Sohn Ury
Aus Zuffenhausen
Pauline Schneider
Aus Degerloch
Auguste und Edith Stein
Lesung Psalm 121 / Schuldbekenntnis und Selbstverpflichtung:
Damals
haben wir weggeschaut und lieber nichts gewusst.
haben Angst gehabt und nichts unternommen.
haben auf unseren Vorteil geschaut und uns bereichert.
Wir erkennen: Wir haben Schuld auf uns geladen.
Denn:„Es ist dir gesagt, Mensch”
Nach dem Krieg
haben wir vergessen, was war.
haben nur noch nach vorne geschaut.
haben Wichtigeres zu tun gehabt und wollten endlich unbeschwert sein.
Wir erkennen an: Wir haben Schuld auf uns geladen.
Denn: „Es ist dir gesagt, Mensch”
Heute
sind wir hier, um uns erinnern und die Erinnerung wachzuhalten.
Wir wollen
Die Namen der Getöteten nennen.
Die Schuld nicht verschweigen.
Unsere Verantwortung ernstnehmen.
Denn: „Es ist dir gesagt, Mensch”
Einladungen und Aaronitischer Segen – Musik zum Ausgang: “Dona nobis pacem”
Mitwirkende:
Bärbel Hornberger-Fehrlen, Zeichen der Erinnerung
Michael Kashi, Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs
Dr. Birgit Rommel, Evang. Kirchengemeinde Stuttgart-Nord
Gerhard Schurr, Posaune
26.04.2022 · 17:30 Uhr im Höhenpark Killesberg · Stele an der ehemaligen “Ländlichen Gaststätte”