Wie soll man das erklären? Da leben Menschen, die sind genau wie die anderen. Sie sehen genau so aus, sprechen die gleiche Sprache, den gleichen Dialekt, haben die gleichen Gewohnheiten. Nur haben sie, nicht alle, aber die meisten, eine andere Religion. Sie gehen nicht am Sonntag, sondern am Samstag zum Gottesdienst. Doch auch die einen, die Christen genannt werden, haben verschiedene Religionen und vertragen sich mehr oder weniger gut untereinander und mit den anderen, die Juden genannt werden.
Und dann kommen die einen, holen die Juden aus ihren Wohnungen, bringen sie an bestimmte Sammelplätze, setzen sie in Eisenbahnwagen, fahren sie weit fort, wo sie von den einen, nicht denselben, aber den gleichen, getötet werden. Die Juden hatten sich nichts zuschulden kommen lassen, waren von keinem Gericht zu einer Strafe verurteilt worden, ihre einzige Schuld war, dass sie die anderen waren.
Und nur einige Jahre später tut es den einen Leid. Nun beklagen sie, nicht dieselben, aber die gleichen, nämlich ihre Nachfahren, was ihre Vorfahren den anderen angetan haben, veranstalten Feiern zum Gedenken der Toten und setzen Gedächtnissteine auf den Bürgersteigen vor den Häusern, aus denen die anderen geholt worden waren.
Wie soll man das erklären? Es waren doch die gleichen, nur aus unterschiedlichen Jahrgängen, die die anderen, die Juden, aus ihren Wohnungen geholt hatten. Waren sie erst böse geworden und dann wieder gut? Offensichtlich kann dies die Erklärung nicht sein. Es kommt hinzu, dass das, was geschah, nicht nur an einem Orte geschah, sondern an allen, im ganzen Land, und zwar gleichzeitig.
Wie soll man das erklären? War eine Tollwut ausgebrochen, die die einen, nicht alle, aber viele, verrückt gemacht hatte? Die Erklärung ist nicht ganz falsch. Aber warum war die Tollwut ausgebrochen? Es war doch kein Virus gewesen. Doch, etwas Ähnliches war es schon. Es gab seit langem eine verbreitete Abneigung gegen die Juden, den sogenannten Antisemitismus, der sich nun zu einem Pogrom gesteigert hatte. Da diese Abneigung jedoch nie, jedenfalls seit langem nicht mehr, überall im Lande und dann auch in vielen anderen Ländern zur fast vollständigen Ermordung der Juden geführt hatte, kann auch dies die Erklärung nicht sein.
Nein, aber es gab zu jener Zeit einen, den man den Führer nannte, der zuerst das Volk verrückt gemacht hatte und dem es dann blindlings gefolgt war und der immer wieder sagte und ankündigte, die Juden müssten getötet werden. Als er am Ende war, schrieb er in seinem Testament, er habe keinen darüber im Unklaren gelassen, dass dieses Mal Millionen Feinde den Tod nicht erleiden würden, ohne dass gleichzeitig auch die Juden, „wenn auch durch humanere Mittel”, ihre Schuld zu büßen hätten.
Was diese Schuld war, sagte er nicht. Er glaubte es, und die anderen glaubten ihm. Das ist, in einfachen Worten gesagt, eine plausible Erklärung. Sie besagt natürlich nicht, dass er es allein getan hat. Er brauchte Helfer, und er fand sie. Nicht alle waren mit dem Mord einverstanden. Aber sie wussten, dass er sie aus ihren Wohnungen herausbringen, dass er sie, wie er sagte, „entfernen” wollte.
Der Mensch ist ein Herdentier, höflicher gesagt: eine Gruppe, in der viele die gleiche Meinung haben. Sie tun das, was die anderen tun. Und wenn einer, an den sie glauben und der die ganze Macht hat, ihnen sagt, was sie glauben und tun sollen, dann tun sie es. Das mag erklären, warum sie es taten, als sie gläubig ihrem Führer folgten, und warum sie es bedauerten, als sie wieder in Freiheit lebten. Beides muss ja erklärt werden: dass sie es erst taten und dass sie es danach bedauerten.
So kann man es wohl erklären – und doch nicht ganz. Es war immer unvernünftig, zu glauben, dass alle Juden, Männer, Frauen und Kinder, samt und sonders „schädlich” seien. Es war auch nicht Fremdenfeindlichkeit, denn die Juden waren keine Fremden. Die einen mussten nicht allesamt ihre Vernunft und ihre mitmenschlichen Gefühle preisgeben, und einige taten es auch nicht. Doch dass so viele erst böse und dann wieder gut wurden, kann die Erklärung nicht sein. Die Umstände hatten sich geändert, nicht die Menschen, obwohl sie die Umstände gefördert und ermöglicht hatten. Deswegen sollten die einen sich heute auch nicht viel darauf einbilden. Sie sind nicht besser als ihre Vorfahren, sie leben nur in glücklicheren Verhältnissen.
Das ist die Lehre, die man daraus ziehen muss. Es ist gewiss wichtig, dass die Menschen zu Vernunft und Menschlichkeit erzogen werden. Noch wichtiger aber ist, dass sie nie wieder einen Führer an die Macht lassen, der sie verführt, auch keinerlei andere Verführer, die ihren Herdentrieb ausnutzen, sondern dass sie die Freiheit und den Rechtsstaat verteidigen, die allein die Gewähr bieten, dass eine Tollwut die Menschen nicht abermals befällt wie damals.
Quelle:
Der Killesberg unter dem Hakenkreuz
Eine Dokumentation der Geschichtswerkstatt Stuttgart Nord e.V.
Mit einem Vorwort von Eberhard Jäckel
Hrsg.v. Wolfgang Harder, Josef Klegraf, Jörg Kurz, Helmut Rannacher
Stuttgart April 2012