David Friedrich Elsäßer, Ansprache am 01.12.2008 anläßlich der Gedenkstunde der GCJZ Stuttgart am Gedenkstein auf dem Killesberg
Sehr geehrter Herr Landesrabbiner Wurmser,
sehr geehrte Damen und Herren von der Repräsentanz der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg bzw. Stuttgart:
- sehr geehrter Herr Fern,
- sehr geehrter Herr Tenné,
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Müller-Trimbusch als Vertreter(in) der Stadt Stuttgart
Sehr geehrte Frau Renninger als Vertreterin der Kirchengemeinde Stuttgart-Nord , – jener Kirchengemeinde, in deren Horizont damals das hierzu bedenkende Grauen der Deportation der jüdischen Bürger und Bürgerinnen stattgefunden hatte;
sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Mitglieder der israelitischen Religionsgemeinschaft
Liebe Mitglieder der Gesellschaft für Christlich Jüdische Zusammenarbeit,
und – last, but not least – liebe Schülerinnen und Schüler der Waldorfschule am Kräherwald, der Lärchenrainschule und des Heidehofgymnasiums als Vertreter der nachwachsenden Generation, -
Wir sind uns bewußt, warum wir hier an diesem Gedenkstein am Stuttgarter Killesberg zusammengekommen sind, – ein relativ kleiner Kreis an einem relativ unscheinbaren Ort. Groß und durch nichts relativierbar ist hier das Grauen, dessen wir gedenken, groß die Peinigung und die Quälerei, die das nationalsozialistisch begeisterte und darin zugleich verblendete Deutschland in den 40-er Jahren hier den jüdischen Bürgern Stuttgarts angetan hat, groß ist die Schande, daß von hier aus Tausende in den amtlich geplanten Tod geschickt, – ja, man muß sagen: nachgerade verfrachtet wurden, und daß sich der Großteil der Bevölkerung dieser Stadt darüber offenbar keine Skrupel gemacht hat, – im Gegenteil, unter Spott und Hohn noch Beifall geklatscht hat.
Unter uns sind Menschen, die – wie die meisten Mitglieder der einstigen jüdischen Gemeinden Stuttgarts und Württembergs -, Familienangehörige und Verwandte im Terror des Nazi-Regimes verloren haben und selbst darunter vielfältig zu leiden hatten.
Unter uns sind Menschen, denen gerade dieses Gedenken eine echte Herzensangelegenheit ist, und unter uns sind junge Leute, Schülerinnen und Schüler, denen es über die rein schulische Befassung hinaus auch um eine emotionale Einlassung auf das Geschehen der Deportation der Stuttgarter Juden durch die Nazis und ihre Helfershelfer geht.
Der Killesberg, der für viele Stuttgarter der Vergnügungspark war und immer noch ist, wurde 1941 für die jüdischen Bürger Stuttgarts zum Eingang einer Hölle, aus der sie nicht zurückkehrten.
Wir sind versammelt, um aufs Neue das den Bürgern jüdischen Glaubens angetane Unrecht und die an Ihnen verübten Verbrechen zu bedenken und zu Herzen zu nehmen. Wir möchten den Angehörigen der Opfer, den Überlebenden des verbrecherischen Systems des NS-Staats unser Mitgefühl bekunden.
Wir hoffen, dabei in unserer sogenannten Erinnerungskultur weiterzukommen und nicht stehen zu bleiben. Doch ist es darum nicht wirklich gut bestellt, leben wir doch in einem Land, in welchem in diesem nun zu Ende gehenden Jahr in zu vielen Köpfen die Kategorien von Recht und Moral auf den Kopf gestellt werden.
Der ranghöchste Politiker des Landes hatte versucht, den überzeugten NS-Parteigänger Filbinger zum Widerstandskämpfer hochzustilisieren, vor kurzem hat ein anderer ranghoher Vertreter derselben Partei den international unstrittig als Widerstandskämpfer anerkannten Dietrich Bonhoeffer zum Verräter umzunieten versucht.
Was will man von jungen Leuten in Sachen Vergangenheits-Erkenntnis erwarten, wenn sogenannt gebildete Erwachsene so unerhört danebengreifen – ?
Beim Spitzengespräch neulich mit den beiden Bischöfen des Landes, Bischof July von der Evangelischen Landeskirche und Bischof Dr. Fürst von der Katholischen Kirche hat Herr Landesrabbiner Wurmser mit Recht darauf hingewiesen, daß die christlichen Kirchen die nicht zu vernachlässigende Aufgabe haben, der nachwachsenden Generation die geschehenen Verbrechen sowie die seitens der Kirchen weithin unterlassene Hilfe und die verweigerte Solidarität bewußt zu machen.
Dabei wollen wir beherzigen, was vor genau zehn Jahren der damalige Landesrabbiner Joel Berger und der damalige Ev. Landesbischof Eberhard Renz in öffentlicher Presse-Erklärung gemeinsam bekundet haben:
„Für den christlich-jüdischen Dialog nach 1945 wird nach wie vor eine gründliche und selbstkritische geistliche Arbeit nötig sein. Unerlässlich ist, daß wir uns der Erinnerung stellen und nicht verdrängen, was wir Deutsche und wir Christen dem jüdischen Volk angetan haben. Nur wer die Geschichte kennt und dieses Wissen ohne Beschönigung und ohne Selbstentschuldigung verantwortlich auf sich nimmt, kann helfen, die Herausforderungen des gegenwärtigen und zukünftigen Dialogs zu bestehen.”
Vor ein paar Wochen waren Gastschüler aus Israel an unserer Schule (Runel Yeshayahu und Adi Hakmon); u.a. hatten wir uns auch auf den Weg gemacht, Spuren jüdischen Lebens in Stuttgart nachzugehen und Plätze der Erinnerung aufzusuchen. Wer sich auf Spurensuche jüdischen Lebens auch in dieser Stadt begibt, kommt um die Wahrnehmung der Spuren jüdischen Sterbens nicht herum: z.B. das Mahnmal am Karlsplatz, den Eingang zum ehemaligen Gestapo-Gefängnis im alten „Hotel Silber”, die Bronzeplastik von Ilse Weil am Rathaus, den Joseph Süß Oppenheimer-Platz, die Synagoge, den Hoppenlau-Friedhof, die Weißenhofsiedlung, diesen Gedenkstein hier am Killesberg und die Gedenkstätte unten an der Nordbahnhof-Rampe.
Unseren israelischen Gastschülern ist bewußt geworden, wie unterschiedlich diese Stationen gestaltet sind, wie unterschiedlich die jeweilige Erinnerung dargestellt und gestützt wird. Am Karlsplatz-Mahnmal zum Gedenken der Opfer des Faschismus liest man die Inschrift im Boden nur, wenn man weiß, daß da etwas geschrieben steht und wenn die Stelle frei von Schmutz ist, am ehemaligen Gestapo-Gefängnis kann man außen gar nichts lesen, erst innen hinter der 2. schweren Glastüre eine relativ kleine Tafel, auf welcher die Gräuel des dort Geschehenen nur sehr nüchtern, dürr und distanziert Erwähnung finden. Der Gedenkplatz für Joseph Süß Oppenheimer ist eigentlich nur ein Parkplatz bzw. eine Tiefgaragen-Ausfahrt, – unschön und kaum identifizierbar, sodaß das Gedenken an dieses einstige Justizopfer kaum aufkommt; man kann sich hier allenfalls vergegenwärtigen, daß es für den damals in Stuttgart inhaftierten Juden Joseph Süß Oppenheimer keinen Ausweg aus dem Todesurteil mehr gab. Dieser Gedenkstein hier am Killesberg verschleiert auch mehr als daß er enthüllt, was für Gräuel hier von den Nazis und ihren Helfershelfern bei der Deutschen Reichsbahn inszeniert wurden.
Den israelischen Gastschülerinnen fielen diese Wandlungen des Gedenkens durchaus auf. Eigentlich haben erst da unten an der jüngsten und erst 2006 vollendeten Gedenkstätte an der Rampe am einstigen Nordbahnhof die jüdischen Opfer eine wirkliche, wenngleich höchst verspätete Würdigung erfahren. Mehr als 65 Jahre hat es gedauert, bis hier in dieser Stadt die jüdischen Opfer der Anonymität enthoben worden sind und einen Namen, ihren Namen wiederbekommen haben und fortan persönlich wahrgenommen werden können. Es war – wie schon bei der letztjährigen Begehung mit israelischen Gastschülern, so auch diesmal ergreifend zu spüren, wie diese jungen Israelis plötzlich Verwandte unter den Namen der dort notierten Opfer entdeckten – und sehr lange und tief betroffen verharrten.
Im 5. Buch Mose, Kapitel 26, 5 ff. liegt eines der ältesten Bekenntnisse Israels vor; man kann darin eine Grundstruktur jüdischen Schicksals erkennen:
„Abgeschweifter Aramäer, mein Ahnvater,
er zog nach Ägypten hinab,
er gastete dort, wenige Leute,
er wurde dort zu einem Stamm, groß, markig und zahlreich,
übel taten uns die Ägypter, sie bedrückten uns,
harten Dienst gaben sie uns auf,
wir schrien zu IHM, dem Gott unserer Väter,
ER hörte unsere Stimme,
ER sah unsere Bedrückung, unsere Mühsal, unsere Qual an,
ER führte uns aus Ägypten
Mit starker Hand, …”
(Übersetzung: Martin Buber u. Franz Rosenzweig: Die 5 Bücher der Weisung).
Es gehört zu den bedrückenden Anfechtungen des Glaubens an IHN, daß die Hilfeschreie der auch von hier Deportierten ins Leere verhallten, ohne erhört zu werden. Und es gehört zur Schuld der Täter und Zuschauer, daß sie keinem zur Seite standen.
Auf die Fron in Ägypten folgte einst die Herausführung, der Exodus, – auf die Deportation nach Babylonien folgte die Rückkehr nach Jerusalem, – aber auf die Deportation von Stuttgart nach Riga und in andere Vernichtungslager in den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Ländern folgte keine Rettung.
Gerettet werden oder rechtzeitig entkommen konnten nur wenige, wie z.B. jene Rexinger Juden, derer wir vor einigen Wochen gedachten in den Ausstellungen über Shavej Zion im Stuttgarter Rathaus.
Auf dem Rexinger Friedhof ist auf einer Tafel jenes Gedicht notiert, das der einstige Herausgeber der Stuttgarter Zeitung, Prof. Dr. h.c. Joseph Eberle verfasst hat: „Der Letzte” – diese seine Worte zum letzten und immer wieder ersten Gedenken.
Gedicht (lateinisch / deutsch) auf der Website schule-bw.de