Prälat i. R. Martin Klumpp · Ansprache am 15.03.2013 · Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“
Verehrte, liebe Damen und Herren, als Menschen sind wir Schwestern und Brüder!
Zuerst bewegt mich jetzt und hier Entsetzen.
Sie kennen das Wort: „Gott schuf den Menschen sich zum Bilde”. Und dann heißt es weiter: „Er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch” (l.Mose 5,2).
Was und wer ein Mensch ist, bestimmen nicht Funktionäre, Parteien, Beamte oder Staaten!
Weil diese Erkenntnis verworfen wurde, deshalb gab es in unserem Land vor siebzig Jahren nicht nur die „Banalität des Bösen”, wie Hannah Arendt sagte, sondern die Bürokratie des staatlichen Mordens.
Beamte mit Titel und Stellung definieren, wer die Würde als Mensch verliert, holen sie ab von zu Hause, wie Hühner zum Schlachten. Überwachung im Gewahrsam der Polizei, eng wie Schweine im Gatter beim Schlachthaus. Ab in den Viehwagen, stundenlanges Stehen im Kalten und Dunklen. Die Bürokratie des Mordens funktioniert fanatisch genau. Jede Zahl, jeder Name, jedes Objekt, alles muss stimmen, bis die Wagen sich schließen. Fahrt in die Qual und zum Töten.
Kein Protest, keine Aufregung in den Kirchengemeinden, keine Demo, kein erkennbar schlechtes Gewissen. Keine Blitze vom Himmel. Es funktioniert und geht deshalb planmäßig weiter.
Entsetzen, Entsetzt-Sein, Erschrecken; das ist das wenigste, das wir tun können. Ich lese und spreche die Namen. Menschen, die genau so gerne lebten wie wir. Es bleibt ein Teil unserer Geschichte. Das Blut der Ermordeten schreit weiter zum Himmel.
II
Das Zweite ist der Mut zur Wahrheit. Genaues Hinsehen, wie es geschah. Die Bürokratie des Mordens ist akademisch, akribisch geplant. Belebung jahrhundertealter Vorurteile, Pseudowissenschaft von Rasse und Reinheit, Inszenierung von großer Bedrohung. Die „Zigeunerfrage” braucht eine Lösung, unerbittlich, perfekt. Institute und Dienststellen entscheiden, wer welche „Behandlung” erfährt. Am Ende ist Töten auch eine „Behandlung”. Alles von Menschen gedacht, diskutiert, geplant und vollzogen, die teilweise gebildet waren wie wir, evangelisch oder katholisch lebten, von Humanität sprachen, die lebten wie unsere Onkels, Tanten, Eltern; oder wie wir. So schrecklich es ist, es ist uns ganz nahe. Misstraue dir selbst, dass du nicht blind wirst!
III
Wenn das Entsetzen sein darf und die Wahrheit gewagt wird, stellt sich die Scham ein.
Als ich ein Kind war, sagte meine Mutter: Draußen an der Allee kampieren Zigeuner. Da musst du aufpassen. Die mögen die Kinder und nehmen sie mit. Verschämt, ängstlich, neugierig schauend ging ich vorüber. Ein bisschen Verlockung kam auf. Wie war’ es bei denen? Das blieb einfach so stehen. Scham, dass das Schlimme, das ich später erfuhr, im Grunde wenig bewegte. Ich merke, wie wenig ich weiß. Sinti und Roma sind nicht ein in sich geschlossenes Volk, dessen Geschichte ich kenne. Kein Land, das ganz von ihnen geprägt ist. Ich frage, was Jahrhunderte lange Ausgrenzung bei ihnen bewirkt hat. Wenn ich eine Minderheit dauernd ausgrenze und benachteilige, wo es um Bildung, Entwicklung, Grundbesitz und Stellung geht, dann hat das soziale Folgen, die man ihnen nachher vorwirft, als ob sie sich verweigern würden. Die Scham soll uns bewegen, dass wir wenigstens ab jetzt diese Geschichte und Beziehung genauer bedenken. Wir stehen im Grunde am Anfang.
IV
Zwei aktuelle Herausforderungen nenne ich noch.
Zum einen: Was fremd ist, muss nicht feind sein. Es ist Ergänzung dessen, was ich bin. Es gibt ein Recht auf Fremd-sein. Hören wir auf, uns selbst zu schützen durch Abwehr und Abwertung dessen, was fremd ist.
Man muss nicht die Ehe schützen, indem man jene abwertet, die anders leben. Man muss nicht Deutschland schützen, indem man die aus anderen Kulturen verachtet.
Zum zweiten: Wer Frieden und Gemeinschaft will mit anderen Völkern, der nimmt auch teil an den Schwierigkeiten oder Leiden aller Menschen, die dort leben. Wenn wir Länder wie Bulgarien und Rumänien in die EU aufnehmen, dann dürfen wir dorthin nicht nur exportieren und unsere Erfolge feiern wollen, dann sind die Sinti und Roma, die dort leben und zum Teil auch leiden, unsere Partner. Es ist wieder ausgrenzend, wenn wir nur die Grenzen schließen aus Angst vor „Import von Armut”. Wenn diese Völker unsere Freunde sind, dann sind die Armen dort auch unsere Freunde.
Wir entdecken einen Teufelskreis. Wer fremd ist, wird zum Feind gestempelt. Wer Feind ist, bringt Gefahr und wird bekämpft. Was zu bekämpfen ist, hat kein Recht auf Mitgefühl. So verschließt sich unser Herz. Der Weg zum Morden ist erschreckend kurz. Lasst uns kritisch und vor allem wachsam bleiben!