Prof. Dr. Ulrich Goll, MdL
Justizminister des Landes Baden-Württemberg
Stellvertretender Ministerpräsident und Integrationsbeauftragter
Grußwort
Über 2000 Deutsche jüdischen Glaubens wurden von Stuttgart in die Konzentrationslager deportiert – nur wenige von ihnen überlebten. Da die abstrakte Zahl der Opfer das Vorstellungsvermögen überfordert, brauchen wir einen Ort, der uns den emotionalen Zugang zu den Opfern erleichtert. Als „Zeichen der Erinnerung” wurde daher am Stuttgarter Nordbahnhof eine Gedenkstätte gestaltet, die die Besucherinnen und Besucher am Ort der verbrecherischen Ereignisse mit der verzweifelten Lage der Opfer konfrontiert. Die Durchführung der Deportation durch die Geheime Staatspolizei zeugt von der Verachtung und dem Zynismus der Täter. So mussten die Deportierten beispielsweise neben einem sogenannten „Eintrittsgeld” und einem „Pflegegeld für fünf Jahre” im Voraus eine einfache Fahrkarte ohne Rückfahrt dritter Klasse bezahlen. Die Gedenkstätte soll auch dazu beitragen, die Opfer aus der Anonymität zu holen. Zu diesem Zweck sind die Namen der Menschen, die von Stuttgart aus deportiert wurden, auf der Mauer zur Otto-Umfrid-Straße zu lesen. Die aus Stuttgart deportierten Menschen stammten nicht nur aus der Stadt Stuttgart. Ein großer Teil der deportierten und später ermordeten Juden stammte aus Württemberg und Hohenzollern. Die Erinnerung an das zugefügte Leid stellt daher eine Verpflichtung für das Land dar. Umso ermutigender ist es, dass die Finanzierung der Gedenkstätte auch ein Beispiel für bürgerschaftliches Engagement ist: neben Mitteln der Landeshauptstadt und der Landesstiftung hat der Verein „Zeichen der Erinnerung e.V.” große Unterstützung von Stuttgarter Bürgern erfahren.
Angesichts der Schrecken des Nationalsozialismus stellt sich für mich als Justizminister die Frage, wie dieses Unrecht möglich war, ohne dass die Gerichte Einhalt geboten haben. Die Erklärung ist ebenso einfach wie erschreckend: nach Hitlers Machtergreifung wurde der Rechtsstaat innerhalb kürzester Zeit beseitigt. Schon im Februar 1933 wurden wesentliche Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung – insbesondere die Freiheit der Person, die Meinungs‑, Presse- und Versammlungsfreiheit, das Brief‑, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung – „bis auf weiteres” außer Kraft gesetzt. Auch wurde die Reichsregierung ermächtigt, „alle zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen” zu treffen. Damit wurde die sog. Schutzhaft ermöglicht. In Schutzhaft genommene Personen waren ihrer fundamentalen Rechte, insbesondere des Rechts, spätestens am nächsten Tag einem Richter vorgeführt zu werden, beraubt. Von der Schutzhaft wurde in der Folge als Terrorinstrument gegen missliebige Personen jeglicher Art Gebrauch gemacht. Sie wurde zunehmend in Konzentrationslagern vollzogen und schließlich jeglicher gerichtlichen Kontrolle entzogen. In einem weiteren Schritt wurden mittels einer Verordnung der Reichsregierung Sondergerichte errichtet, vor denen die Rechte des Angeklagten radikal eingeschränkt waren. Auf Grundlage des vom Reichstag im März 1933 verabschiedeten sog. Ermächtigungsgesetz erließ die Reichsregierung schon eine Woche später ein Gesetz über die rückwirkende Geltung der Todesstrafe. Der Rechtsstaat war innerhalb von zwei Monaten zu einem Unrechtsstaat geworden, der auf seinem weiteren Weg auch die Reste der Grundsätze von Rechtssicherheit und Übermaßverbot beseitigte und sich zu einem Willkürstaat entwickelte.
Die Gedenkstätte erinnert an Tage der Scham und dokumentiert einen Tiefpunkt in der Geschichte von Stadt und Land. Neben der Erinnerung an die Vergangenheit soll die Gedenkstätte auch der Zukunft dienen und das Verantwortungsbewusstsein in unserer Gesellschaft stärken. So könnte diese Gedenkstätte auch ein Zeichen der Hoffnung werden für eine Welt der Zuversicht und der Mitmenschlichkeit.
Publiziert in:
Zeichen der Erinnerung…
2. überarbeitete Auflage 2006 (S. 8)
3. Auflage 2009 (S. 10)
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