Vorsitzender · Landesverband Sinti und Roma Baden-Württemberg, Mannheim
Rede zum Anlass des 75. Jahrestags des Gedenkens an die Deportation von Sinti und Roma nach Auschwitz
So werden wir Träger von Todesängsten
Manchmal habe ich das Gefühl wir versuchen seit 600 Jahren nicht zu leben sondern zu überleben. Die Geschichte bzw. Herkunft der Sinti und Roma geht auf Indien (Sindh) zurück. Die Ursachen der Vertreibung und Auswanderung aus Sindh zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert waren vor allem Verfolgung, Vertreibung, Sklaverei und Kriegseinflüsse.
Das Wort „Vogelfrei“ führte der Reichstag zu Freiburg 1498 ein. Es bedeutet aber nicht die Assoziation, die sie nun evtl. damit verbinden, das sich dem Klischee eines wilden Lebens widmet. Es bedeutet des Landes verwiesen und Straffreiheit für alle an ihnen begangenen Straftaten.
Sinti und Roma wurde verboten; innerhalb der Städte zu wohnen, an formaler Bildung teilzunehmen und „zünftige“ Berufe zu erlernen. Diese 300 Jahre prägten das Leben, die Berufe, und die Kultur der Sinti nachhaltig. Doch die Geschichte der Sinti und Roma ist auch geprägt von Widerstand. Zum Überleben wurden Berufe und Unterkünfte neu erfunden. Diese neuen Strukturen wirkten sich auch auf die Kultur aus. Es wurden Überlebensstrategien entwickelt. Dies hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung und den Einfluss der Manoush-Musik. Und wer wünscht sich heute nicht alles einen Wohnwagen?
Wir wissen über das Leben und über Einzelheiten der Geschichte unserer Minderheit noch sehr wenig, da es fast keine eigenen Schriftquellen gibt. Traditionell verlief die Weitergabe der Kultur mündlich. Der Holocoust hat dazu beigetragen dass ein großer Teil unserer Kultur verloren ging, die nun mühsam wieder zusammengetragen wird.
Gedenken taugt nicht zur Einforderung von Rücksichtnahme oder Entschädigung. Die Erinnerung an den Völkermord an unseren Angehörigen ist ein kollektives Trauma und wir stehen hier zusammen um uns gegenseitig zu stützen und zu stärken nach Vorne zu schauen.
Hunderttausende Sinti und Roma wurden in Europa ermordet, sie starben in Gaskammern, durch Erschießung, Zwangsarbeit, Todesmärsche, erbärmlichste Lebensbedingungen oder medizinische Experimente.
1936 erging der „Erlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“. Es entstanden sogenannte „Zigeunerlager“. Die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ wurde beauftragt alle Sinti und Roma zu erfassen mit dem Ziel der „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“. Am 16. Dezember 1942 erfolgte der „Auschwitz-Erlass“ in dem der Transport von europäischen Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau angeordnet wurde. Und heute. Am 15. März 1943 erfolgten die ersten Deportationen. Mehr als 230 Sinti und Roma aus Württemberg und Hohenzollern, die meisten Frauen und Kinder, wurden vom Stuttgarter Nordbahnhof mit Zügen von den Gleisen an der Otto-Umfrid-Strasse, wo wir heute stehen, direkt in das „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau deportiert.
Hier wurden zwischen 1941 und 1945 mehr als 2500 Menschen aus Württemberg deportiert nach Theresienstadt, Riga, Iżbica, Auschwitz und in andere Konzentrationslager. Die Schienen, Schwellen und Prellböcke sind traurige Relikte des Weges in den Tod. 2006 wurde dieser Ort zum “Zeichen der Erinnerung“.
Innerhalb der Konzentrationslager leisteten Sinti und Roma vielfältigen Widerstand. Ein Höhepunkt war der Aufstand im Lagerabschnitt B II e von Auschwitz-Birkenau, dem sogenannten „Zigeunerlager“. Am 16. Mai 1944 sollte das Lager „liquidiert“ werden. Die 6000 Sinti und Roma Häftlinge bewaffneten sich mit allem was sie fanden: Blech, Stöcke, Steine, Werkzeug, Brot. Sie leisteten Widerstand gegen die SS und verbarrikadierten die Baracken. Einige Tage darauf wurde der Widerstand aufgelöst und die Menschen ermordet.
Ich bin eine Generation nach Auschwitz geboren und bin mit der beunruhigenden Vorstellung aufgewachsen, dass die humanistischen Ideale und republikanischen Utopien jederzeit widerrufbar sind. Mein Vater Heinz Strauß überlebt Auschwitz und Buchenwald. Meine Mutter, Maria Strauß, überlebte das Zwangslager „Frankfurt-Dieselstraße“. Ich brauche Ihnen nicht alle Gräultaten an meiner Familie schildern, die ihnen wiederfahren sind.
Ihre Wunden wurden übertragen in ein soziales Gedächtnis und so werden wir Träger von Todesängsten.
Die erste Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den Völkermord an einer halben Million Sinti und Roma in Europa fand am 27.10.1979 statt. Hinterbliebene organisierten sich zu einer Bürgerrechtsbewegung und machten in der Öffentlichkeit auf ihre Anliegen aufmerksam. Vielen ist der zentrale Moment der deutscher Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma bekannt: Der Hungerstreik im Konzentrationslager Dachau 1980.
Wir protestierten gegen die Weiterverwendung von NS-„Zigeuner Rasse“-Akten durch die Polizei und andere Behörden und für eine Anerkennung als Geschädigte des NS-Regimes.
Der Kampf um die Weiterverwendung der „Zigeuner Rasse“-Akten ging weiter bis in die Anfänge der 2000 Jahre. Sinti und Roma waren pauschal potentielle Täter. Eine Annahme, die mir auch heute noch sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Politik und in Behörden häufig genug entgegenschlägt.
Durch die Nicht-Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus bis in die 80er Jahre hinein erfolgte eine zweite Traumatisierung. Auch diese Wunden wurden übertragen in ein soziales Gedächtnis und so werden wir Träger von Todesängsten.
Am 21.12.1982 wurde der Völkermord aus rassistischen Gründen an den europäischen Sinti und Roma anerkannt. Die Anerkennung als Opfer des rassistisch motivierten Völkermords kam für viele zu spät, sie waren verstorben.
Ende der 80er Jahre und in den 90er Jahre begann die rassistische Hetze von Neuem in alarmisierenden Tönen Stimmung zu machen. Wochenlang wurde über Flüchtlinge, darunter auch Roma, debattiert in den Medien und es kam zu Ausschreitungen und Brandanschlägen.
Meine und andere Familien überlegten erneut zu fliehen.
Ein Staatsvertrag kann daran etwas ändern indem er mit Inhalt befüllt wird: die Beteiligung der nationalen Minderheit in allen gesellschaftlichen Bereichen herstellt, eine Informationssicherheit für Angehörigen der Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft sichert und die kulturelle Identität in der Vielfalt der badenwürttembergischen Kultur fördert. Dieser Vertrag mit dem Land Baden-Württemberg und dem Landesverband der Deutschen Sinti und Roma Baden-Württemberg erkennt uns als nationale Minderheit offiziell an. Er erkennt unsere Sprache, Romanes, als Teil des kulturellen Erbes an.
Unser Staatsvertrag oder auch jeder andere Staatsvertrag für die Minderheit kann, wenn er mit Leben erfüllt wird, Teil eines großen Projekts sein: die Dekonstruktion des „Zigeunerbildes“ und die Konstruktion von Realitäten der Minderheit. Vielleicht ist es ein verrücktes Projekt: Menschen dazu zu bringen Sinti und Roma anzuerkennen, teilhaben zu lassen und vielleicht auch zu mögen.
Joann Sfar schreibt in seinem Buch Klezmer:
„Ich glaube, dass die Menschheit Freundschaft braucht. Wenn die Menschen spüren, dass man sie nicht leiden kann, erfinden sie den Blues, oder die Manusch-Musik oder den Klezmer. So können sie den anderen ihre Lage verständlich machen. Ihre Sprache richtet sich damit an alle, und aus der weltfernsten Gemeinde erhebt sich so ein universeller Gesang“.
In Gedenken an die Opfer und zu Ehren der Angehörigen, die heute hier zusammen gekommen sind, werden nun die Namen der ermordeten Menschen verlesen.
Anmerkung: dies hier ist die gedruckte Fassung der Ansprache von Daniel Strauß. Am 15.03. hat er größere Passagen frei gesprochen und sehr persönlich erweitert. Da wir keine Tonaufzeichnung gemacht haben, können wir dies nicht wiedergeben und behelfen uns mit dem Abdruck des “geschriebenen Worts”.
← Dr. Martin Schairer |
→ Prof. Barbara Traub |