Michael Kashi ist Mitglied des Vorstands der IRGW (mit Prof. Barbara Traub und Mihail Rubinstein) und Mitglied der Repräsentanz der IRGW
Kwod HaRabbanim,
Sehr geehrter Herr Keller
Sehr geehrter Herr Fabian
Sehr geehrte Bürgermeisterin Fezer
hoch verehrte Damen und Herren,
sehen Sie mir bitte nach, wenn ich Sie nicht alle namentlich zu begrüßen vermag. Umso mehr vergewissere ich Sie im Namen unserer jüdischen Gemeinde, insbesondere meiner Vorstandskollegen Barbara Traub und Michael Rubinstein, dass wir uns sehr freuen, dass Sie so zahlreich den Weg hierher gefunden haben.
Es ist jetzt 81 Jahre her, dass der erste Zug mit 1.000 jüdischen Menschen den Stuttgarter Nordbahnhof verließ.
Der letzte, der zwölfte Zug verließ Württemberg vor 77 Jahren, im Februar 1945. Die Meisten wurden ermordet. Dann war es vorbei. Vorbei mit dem jüdischen Leben in Württemberg und Stuttgart.
Ermordet? – Ja, ermordet … nicht „umgekommen“ oder „zu Tode gekommen“. Das war Vorsatz … „Vernichtung durch Arbeit“ hieß die Devise. Mord aus niedersten Beweggründen. So man überhaupt von Beweggründen sprechen kann…
Ich vermag die Beweggründe für den Mord an Millionen von Juden, darunter 1,5 bis 2 Millionen Kinder und Jugendliche, nicht zu erkennen. Ich muss schon in der antisemitischen Literatur nachschlagen, warum man unsere Vorfahren Millionenfach umgebracht hat … erschossen, grausam erstickt in Gaskammern … getrieben ins Eis und dann auf sie geschossen.
Am Vorabend des ersten Deportationszuges, so Dr. Rannacher, lebten hier noch 2.810 jüdische Württemberger. Zahlreiche hatten – zermürbt von Jahren antisemitischer Hetze und zuletzt den Novemberpogromen 1938 – die Flucht ergriffen. Die, die nicht fliehen konnten, wurden in diesen zwölf Zügen deportiert … nach Riga – dorthin ging der erste Zug – …dann nach Theresienstadt, nach Izbica, nach Auschwitz …
Wir gedenken ihrer, wohl wissend, dass unter den Deportierten Familien waren, aus denen niemand überlebt hat. Niemand, der sich der Toten erinnern könnte. So ein Gedenken ist für mich nicht ganz einfach. Es ist nicht ganz einfach, denn ich bin hier zu Ihnen als Vertreter der jüdischen Gemeinde gekommen. Und wenn man sich als Vertreter der jüdischen Gemeinde auf solch ein Gedenken vorbereitet, dann überlegt man natürlich auch, was Sie, die nicht-jüdischen Menschen von dem Gedenken erwarten. Und was Sie von mir als ‚dem Juden‘ erwarten…
Für uns als jüdische Gemeinde ist es natürlich klar, dass wir der Deportierten, der Geknechteten und Ermordeten gedenken. Das waren unsere Brüder und Schwestern, Mitglieder unserer Gemeinde! … das waren Leute, wie ich – nur dass sie acht Jahrzehnte vor mir gelebt haben.
Doch sind das auch Ihre Erwartungen?
Golo Mann, jener weise Historiker (und Bruder von Thomas Mann) formulierte es bereits 1958 in seiner „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ so:
„Dem historischen Erzähler wie dem Pädagogen bleibt nichts, als die Wahrheit aufrechtzuerhalten und notfalls für ihre Aufrechterhaltung zu kämpfen, so deprimierend die letztere Aufgabe auch ist. Gern begreifen wir, dass die Jugend von Schuld und Irrtum der Väter, bald der Großväter, von den alten Blutgeschichten zu viel nicht mehr hören will. Die Grundtatsachen müssen trotzdem in unserem Bewusstsein bleiben; denn ohne sie, was auch alles sich zwischen Damals und Heute geschoben hat, ist die Gegenwart nicht zu verstehen.“
Hannelore Marx, einer der letzten Überlebenden der Deportationen aus Stuttgart, hatte uns zum 70. Jahrestag des Beginns der Deportationen einen Brief geschrieben. Tief besorgt, dass es nach wie vor Menschen gibt, die die Geschichte leugnen, während die letzten Überlebenden langsam sterben, endet ihr Brief mit den folgenden Worten:
„Über die schrecklichen Jahre [der Deportation in die Lager] will ich Ihnen nichts erzählen. Es waren dreieinhalb Jahre mit unmenschlichen Leiden. Zehntausende Menschen wurden erschossen, andere starben an Unterernährung. Meine Mutter wurde am 26. März 1942 erschossen und mein Vater im August 1944. Weil sie Juden waren. Dass ich selbst am Leben blieb, ist ein Wunder, und dass ich noch heute am Leben bin, ist genauso ein Wunder. Ich glaube, ich bin die einzige Überlebende aus Stuttgart, die noch am Leben ist. Von ganz Württemberg sind noch eine Handvoll am Leben. Wenn heute noch Menschen behaupten, dass alles nicht wahr war, so sind das dumme, unwissende Menschen. Ich kann Ihnen versichern, dass [… alles] Wahrheit ist.“
Sehr geehrte Damen und Herren man kann die Verantwortung scheuen, das Gedenken als Ritual der Etablierten abtun … Gedenksteine besudeln … doch ändert dies nichts an dem, was geschehen ist.
Wir können das Unrecht was damals geschah nicht ungeschehen machen. Aber wir können diesen Menschen gemeinsam die Ehre erweisen. Indem wir an sie denken. Ab und an. Zum Beispiel heute am 21. August, …Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Im Namen all derjenigen, die damals nicht mehr zurückgekommen sind.
Schalom.