An der großen Auswanderungsbewegung aus Württemberg im 19. Jahrhundert nahmen auch Juden teil. Doch emigrierten sie in der Regel nicht aus einem religiösen Antrieb. Vielmehr teilten sie die Hoffnungen ihrer Landsleute jedweder Religion, im Ausland bessere wirtschaftliche und soziale Chancen zu finden. Mit der so genannten »Machtergreifung« der Nationalsozialisten im Januar 1933 veränderte sich die bisherige Auswanderung. Es waren zuerst Künstler und jüdische Intellektuelle, die ins Ausland gingen; viele von ihnen hatten schon in der Weimarer Republik den Aufstieg der Nationalsozialisten bekämpft. Von Wien, Prag oder Amsterdam aus setzten etliche diesen Kampf fort. Die Mehrheit der deutschen Juden scheute freilich vorerst den schwerwiegenden Schritt.
Doch mit der Verkündung der »Nürnberger Gesetze«, vor allem aber nach den Gewaltausbrüchen der so genannten »Reichspogromnacht« im November 1938 waren auch die letzten Illusionen über den verbrecherischen Charakter des Regimes verflogen. Fast alle noch im Lande lebenden Juden bemühten sich um die lebensrettende Flucht. Der »Hilfsverein der Deutschen Juden« wurde im Inland nach 1933 rasch zur Zentralstelle für die Auswanderung in alle Zielländer mit Ausnahme Palästinas. Für dieses Zielland blieb das »Palästinaamt« der »Jewish Agency« in Berlin zuständig. Auch in Stuttgart eröffnete der »Hilfsverein« eine Beratungsstelle. Die Hoffnung auf eine umfassende Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft zerschlug sich mit dem enttäuschenden Verlauf der Konferenz von Evian (6. bis 9. Juli 1938). Dafür halfen zahlreiche ausländische jüdische Organisationen den deutschen Juden bei Flucht und Wiedereingliederung.
Schon von 1933 an waren die jüdischen Auswanderer systematisch durch die Behörden ausgeraubt worden. Mit einem ganzen Bündel rasch verschärfter Gesetze wurden ihnen nach und nach alle Möglichkeiten genommen, auch nur Teile ihres Besitzes zum Aufbau einer neuen Existenz mitzunehmen. Lediglich bei der Ausreise nach Palästina konnte etwas mehr von der eigenen Habe mitgeführt werden. Die Mehrheit der Flüchtlinge aber verließ Deutschland mittellos zusätzlich zu den offiziellen Raubmaßnahmen bedienten sich auch Nachbarn und korrupte Beamte an deren Habe. Ansonsten zeigten sich die verschiedenen Verwaltungs- und Dienststellen des Regimes in der Auswanderungsfrage widersprüchlich. Offiziell war das »Reichswanderungssamt« im Reichsinnenministerium zuständig. Es förderte die Auswanderung, doch andere Behörden, wie die Gestapo, behinderten sie immer wieder. Im Januar 1939 entstand unter der Leitung von Reinhard Heydrich die »Reichszentrale für jüdische Auswanderung«, die Ende 1939 im Reichssicherheitshauptamt aufging. Ihr erklärtes Ziel war es, die Auswanderung mit allen Mitteln zu unterstützen. Doch wurde es den noch im Land lebenden Juden immer schwerer, einen Staat zu finden, der sie aufnahm. Doch selbst nach Kriegsbeginn gelang es wenigen Juden, sich dem Zugriff der Mörder zu entziehen. Bis zum Verbot der Auswanderung am 1. Oktober 1941 war 19 400 Juden aus Baden und Württemberg die Flucht gelungen (rund 62 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Jahres 1933). Hauptziel waren die USA, die fast die Hälfte aller Auswanderer aufnahmen, gefolgt von Palästina, wohin sich fünfzehn Prozent retten konnten. Diejenigen jedoch, die in Nachbarländer gegangen waren, wurden nach deren Besetzung durch die Wehrmacht antijüdischen Maßnahmen unterworfen, viele von ihnen wurden im Holocaust ermordet.
Mitte November 1941 erhielten eintausend württembergische Juden Post; damit begann der letzte Abschnitt der Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten. Der Inhalt des Rundschreibens führte in trockenem Amtsdeutsch aus, dass sie sich auf dem Stuttgarter Killesberg einzufinden hätten, von wo sie weiter in den Osten transportiert werden würden. Vermögen, alle Arten von Wertgegenständen und der Großteil von Kleidung und Mobiliar, so das Schreiben weiter, mussten zurückgelassen werden. Detailliert wurde aufgeführt, was mitgenommen werden durfte, darunter ausdrücklich auch Arbeitsgeräte, wurde doch der Eindruck einer »Ansiedlung« erweckt. Doch was diese Menschen tatsächlich in Händen hielten, war ihr Todesurteil.
Womöglich wusste dies auch die Mehrheit der Betroffenen, denn seit 1933 hatte sich ihre Situation ständig verschlechtert. Den ersten Morden in Württemberg, die gleich nach der Machtergreifung an Creglinger Juden verübt worden waren, folgten 1938 bei den brutalen Ausschreitungen im Umfeld der sogenannten »Reichspogromnacht« weitere. Zahlreiche jüdische Männer wurden zudem brutal misshandelt, fast alle für Tage oder Wochen in Konzentrationslagern weiter gequält. Wenige Monate danach erzwang das »Gesetz über Mietverhältnisse« die schrittweise Ghettoisierung der noch in Württemberg verbliebenen Juden in wenigen Gemeinden.
1940 und 1941 setzte sich, ausgehend vom Sicherheitsdienst und dem Reichssicherheitshauptamt der SS, bei allen Machthabern der Nazibewegung der Plan zur vollständigen Ermordung der europäischen Juden durch. Das Reichssicherheitshauptamt übernahm die Federführung für das Reichsgebiet, für die konkrete Umsetzung der Mordpläne in Württemberg war die Gestapo-Leitstelle Stuttgart zuständig. Perfiderweise bezog die Gestapo die Jüdische Kultusgemeinde Württemberg in die Mordvorbereitungen ein. Sie hatte die Personen für die Deportation auszuwählen und mit dem genannten Rundschreiben auf den Transport durch die Ortspolizeibehörden nach Stuttgart vorzubereiten.
Am 1. Dezember 1941 wurden sie vom Killesberg zum Inneren Nordbahnhof gebracht, wo sie einen Zug nach Riga besteigen mussten. Mit dem Übertritt über die Reichsgrenze wurden ihnen die noch verbliebenen staatsbürgerlichen Rechte aberkannt, ihre gesamte zurückgelassene Habe fiel an den Staat. Von den über tausend Menschen dieses Transports erlebten nur dreißig die Befreiung; der Großteil wurde von deutschen Kommandos schon kurz nach der Ankunft erschossen oder starb als Zwangsarbeiter. Dieser Transport war freilich nur der Anfang, weitere mit unterschiedlichen Zielbahnhöfen sollten folgen. Insgesamt wurden über 2500 jüdische Männer, Frauen und Kindern vom Stuttgarter Nordbahnhof und Hauptbahnhof aus verschleppt. Lediglich rund einhundertachtzig von ihnen haben überlebt, alle anderen wurden erschossen, vergast oder erschlagen, starben an Hunger, Krankheit oder Schwäche. Der Einstieg in die Züge am Nordbahnhof war für Hunderte Menschen zum ersten Schritt auf dem Weg zu ihrer Ermordung geworden. hs