Nach zwölf Jahre brutaler Verfolgung schien der Gedanken an ein jüdisches Leben in Stuttgart und Württemberg geradezu absurd. Und doch begann Herbert Eskin, Rabbiner in der Amerikanischen Armee, sofort nach der Befreiung zusammen mit den rund zwanzig Juden, die zumeist im Untergrund überlebt hatten, und mit den ersten Rückkehrern aus den Lagern mit dem Wiederaufbau der jüdische Gemeinde.
Noch im Mai 1945 wurde mit Hilfe von Oberbürgermeister Arnulf Klett das Haus Reinsburgstraße 26 beschlagnahmt und zur »Jüdischen Religionszentrale und sozialen Hilfsstelle« umgewidmet. Am 2. Juni 1945 fand hier der erste öffentliche jüdische Gottesdienst nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft statt. Sieben Tage später war mit der ersten Sitzung des neu gewählten Vorstandes unter der Bezeichnung »Israelitische Kultusvereinigung Württemberg« (IKVW) die Gemeinde auch rechtlich wiedererstanden. Sie sah sich als Rechtsnachfolgerin aller früheren Gemeinden und jüdischen Einrichtungen in Württemberg. Unterstützt wurde sie von jüdischen Hilfsorganisationen wie dem »American Joint Distribution Committee«.
Die Rückführung der ehemaligen Häftlinge neben religiösen Aufgaben und Sozialarbeit für die IKVW besondere Priorität. Nach erheblichen Schwierigkeiten traf ein Buskonvoi mit knapp fünfzig Überlebenden aus Theresienstadt am 24. Juni 1945 in Stuttgart ein. Weitere einhundertdreißig Häftlinge aus den verschiedensten Lagern erreichten aus eigener Kraft die Landeshauptstadt. Viele der geschwächten Menschen wurden in der ehemaligen Reichssportschule in Degerloch untergebracht. Trotz medizinischer Betreuung und Sonderrationen dauerte ihre körperliche und seelische Wiederherstellung lange.
Neben den knapp zweihundert heimgekehrten deutschen Juden, lebten 1945 Hunderte von Juden als »Displaced Persons« (DPs) in Württemberg. Die DPs aus westeuropäischen Staaten kehrten in den ersten Wochen nach Kriegsende in ihre Heimatländer zurück. Auch die Bürger der Sowjetunion wurden durch die Westmächte, in akkurater Erfüllung der Festlegungen von Jalta, bis Ende 1945 repatriiert, d. h. in die Sowjetunion zurückgeführt. Für die verbliebenen osteuropäischen DPs bemühten sich die Alliierten im Herbst 1945 um bessere Unterbringung in leerstehenden Kasernen (so in Ludwigsburg, Schwäbisch Gmünd oder Ulm) und beschlagnahmten Wohnungen. In Stuttgart wurden so in der oberen Reinsburgstraße Wohnraum für rund 1500 jüdische DPs eingezogen, die von Radom in Polen aus eine Odyssee durch mehrere Lager hinter sich hatten, bis sie im Konzentrationslager Vaihingen an der Enz befreit worden waren.
1946 setzte eine weitere, völlig unerwartete Zuwanderung von jüdischen DPs ein. Rund 150 000 polnische Juden, die in der Sowjetunion der Verfolgung durch die deutsche Besatzung entgangen waren, waren bei der Heimkehr durch ihre polnischen Mitbürger antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Tausende von ihnen flohen daraufhin nach Westen. Da Briten und Franzosen nur sehr restriktiv weitere Menschen in ihren Zonen aufnahmen, kam ein Großteil davon in die amerikanisch besetzte Zone. Ende 1946 lebten daher in der amerikanisch besetzten Zone Nordwürttemberg-Nordbaden über 14 500 jüdische DPs, davon ungefähr 1600 in Stuttgart.
Ein dauerhaftes Bleiben im Land des Holcaust war für sie undenkbar. Ihr Ziel war die Auswanderung nach Israel oder in ein anderes überseeisches Land. Am 28. Januar 1946 gründeten sie als ihre Interessensvertretung das »Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Besatzungszone« (ZK). Das ZK beanspruchte die politische und rechtliche Vertretung aller in Deutschland befindlichen Juden, dazu die Rechtsnachfolge für den ehemaligen jüdischen Besitz. Dank der Unterstützung durch jüdische Hilfsorganisationen, konnte das ZK seinen Einfluss rasch ausweiten. Mit einem »Regional-Komitee« erhob es auch in der amerikanischen Zone Württemberg-Baden seinen autoritären Anspruch.
Damit war der Konflikt mit dem IKVW vorgezeichnet, das sich in einem Spannungsfeld gegensätzlicher Lebenspläne sah. Mit dem IKVW war die ehemalige württembergische Gemeinde wiedererstanden. Doch zwischen Heimkehr nach Deutschland auf der einen und der Sammlung der Juden in einem eigenen Staat Israel auf der anderen Seite war kaum zu vermitteln. Immerhin erweiterte eine Satzungsänderung der IKVW im April 1948 die Mitwirkungsmöglichkeiten der jüdischen DPs.
Wachsende Ungeduld und Spannungen in den überfüllten DPs-Lagern machte die Situation nicht einfacher. Die angrenzenden Städte beklagten Überfälle, teilweise verhängten die amerikanischen Behörden Ausgangsperren. Bemühten sich auch Teile der deutschen Behörden zu helfen, so blieben doch ein Großteil der deutschen Bevölkerung und Verwaltungen den DPs gegenüber ablehnend bis feindlich gestimmt. Antijüdische Stereotypen kamen wieder auf. Bei einer Razzia der deutschen Polizei, die von amerikanischen Militärpolizisten begleitet wurde, eskalierte am 29. März 1946 im DP-Lager in der Stuttgarter Reinsburgstraße das problematische Verhältnis zwischen jüdischen DPs und deutschen Behörden. Der Auschwitz-Überlebende Szmul Danzyger, der am Tag zuvor aus Paris eingetroffen war und in Stuttgart zum ersten Mal Frau und Kind wieder gesehen hatte, wurde durch einen Kopfschuss getötet.
Die erleichterte Emigration in die USA und die absehbare Gründung des Staates Israel (15. Mai 1948), als deren Folge ab Frühjahr 1948 Tausende von DPs zu ihren eigentlichen Zielen weiterreisen konnten, entspannte die Situation. Vom Juli 1947 bis 31. Dezember 1950 wanderten über 120 000 jüdische DPs von Deutschland nach Israel aus. Ende 1950 löste sich das ZK auf.
Im Juli 1950 konnte die Stuttgarter Gemeinde von der viel zu kleinen Reinsburgstraße 26 in das wiederhergestellte Gemeindezentrum in der Hospitalstraße umziehen. Schon seit August 1948 tat Landesrabbiner Heinrich Guttmann in Stuttgart seinen Dienst. Mit der Einweihung der neuen Synagoge am Platz des zerstörten Vorgängerbaus kam am 13. Mai 1952 die unmittelbare Nachkriegszeit an ein Ende. Die IKVW hatte sich etabliert und die wichtigsten Einrichtungen für das Gemeindeleben errichtet. In den folgenden Jahrzehnten blieb die Gemeindegröße konstant. Jüdische Flüchtlinge aus Ungarn und später aus der Tschechoslowakei glichen die Überalterung aus. 1966 kehrte die Gemeinde mit der Bezeichnung »Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg« (IRGW) zum angestammten Namen zurück. 1983 zählte die IRGW 713 Mitglieder.
Mit den Kontingentflüchtlingen, die seit 1990 nach Deutschland kommen, wuchs erfreulicherweise auch die jüdische Gemeinde in Württemberg auf rund 2500 Köpfe an. Die Eingliederung dieser Menschen, die von den jüdischen Traditionen zum Teil seit Generationen abgeschnitten waren, stellt freilich die Gemeinde vor erhebliche Aufgaben. hs