Deportationen

Tabel­la­ri­sche Über­sicht · Riga 01.12.1941 · Izbica 26.04.1942 ·

Ausch­witz-Bir­ken­au ab Juli 1942 · The­re­si­en­stadt ab August 1942


Roland Mül­ler:
Die Depor­ta­tio­nen vom Inne­ren Nordbahnhof

Den Depor­ta­tio­nen ging die „Abson­de­rung” in sog. Juden­woh­nun­gen und in Zwangs­al­ten­hei­me auf dem Land vor­aus. Die­se hat­te neben der ras­sis­ti­schen auch eine öko­no­mi­sche Kom­po­nen­te: In Stutt­gart herrsch­te Woh­nungs­not. Vor Ort arbei­te­ten die Macht­trä­ger Hand in Hand: Die Hein­kel-Hirth-Wer­ke setz­ten gegen die Über­las­sung von 60 Woh­nun­gen länd­li­che Anwe­sen instand, die Stadt Stutt­gart war aktiv bei der „Frei­ma­chung” von über­be­leg­ten Heimen.

Gleich­zei­tig began­nen zen­tral die Vor­be­rei­tun­gen für Depor­ta­tio­nen. Stutt­gart war einer von 16 Aus­gangs­or­ten eines Depor­ta­ti­ons­zu­ges. Mit­te Novem­ber 1941 infor­mier­te die Sta­po­leit­stel­le die Jüdi­sche Mit­tel­stel­le über eine für den 1. Dezem­ber vor­ge­se­he­ne Depor­ta­ti­on, getarnt als Umsied­lung, und befahl die Aus­wahl von 1000 Men­schen – ein per­fi­der Ver­such, die Reprä­sen­tan­ten der Juden­schaft zu Hand­lan­gern zu machen. Bin­nen weni­ger Tage muss­te Betrof­fe­nen „ihr zum Raub bestimm­tes Hab und Gut auch noch selbst für die Bequem­lich­keit des Räu­bers” her­rich­ten (Adler). Die für die Reichs­gar­ten­schau 1939 errich­te­ten Hal­len auf dem Kil­les­berg waren zum Sam­mel­la­ger umfunk­tio­niert worden.

Am Mor­gen des 1. Dezem­ber 1941 ver­ließ der Zug den Inne­ren Nord­bahn­hof nach Riga. Nach drei Tagen und Näch­ten erreich­ten die Depor­tier­ten das impro­vi­sier­te Lager im Gut Jung­fern­hof, in dem „die Men­schen star­ben wie die Flie­gen”. Am 26. März 1942 erschos­sen SS- und Poli­zei­ver­bän­de über 1.600 Men­schen im Bikernie­ki-Wald, dar­un­ter vie­le der aus Stutt­gart Ver­schlepp­ten. Ins­ge­samt über­stan­den 42 Men­schen Grau­sam­kei­ten und Mord­ak­tio­nen. Die zwei­te Depor­ta­ti­on ins Tran­sit­ghet­to Izbica im Distrikt Lub­lin am 26. April 1942 betraf 273 Per­so­nen aus Würt­tem­berg-Hohen­zol­lern sowie etwa 260 aus Baden, der Pfalz und Luxem­burg. Nie­mand überlebte.

Die letz­te Depor­ta­ti­on vom Nord­bahn­hof fand am 22. August 1942 statt. Die Opfer muss­ten für die Zug­fahrt bezah­len, eben­so ein „Ein­tritts­geld” und ein auf fünf Jah­re ange­setz­tes „Pfle­ge­geld”. Ziel der Depor­ta­ti­on war die ehe­ma­li­ge habs­bur­gi­sche Kaser­nen­an­la­ge The­re­si­en­stadt. Die meis­ten Depor­tier­ten aus Würt­tem­berg wur­den in der Dres­de­ner Kaser­ne unter­ge­bracht. Die Hälf­te über­leb­te kei­ne zwei Mona­te. Und wer die Stra­pa­zen über­stand, konn­te jeder­zeit einem Ver­nich­tungs­trans­port zuge­teilt werden.

Um die Hin­ter­las­sen­schaf­ten strit­ten sich Behör­den, NS-Orga­ni­sa­tio­nen und Nach­barn, teils bei öffent­li­chen Ver­stei­ge­run­gen. Die Stadt konn­te z.B. ihre Ansprü­che auf jüdi­sche Alters­hei­me durchsetzen.

Bei drei Depor­ta­tio­nen wur­den 1943 wei­te­re 58 Men­schen ver­schleppt. 1944 gerie­ten sog. Misch­ehen­part­ner, die durch Tod oder Schei­dung der Gat­ten ihren Schutz ver­lo­ren hat­ten, ins Visier; im Unter­gang nahm das Regime auf sog. pri­vi­le­gier­te Misch­ehen kei­ne Rück­sicht und ver­schlepp­te noch Anfang Febru­ar 1945 fast 60 Men­schen nach The­re­si­en­stadt. Als am 21. April 1945 fran­zö­si­sche Trup­pen Stutt­gart besetz­ten, leb­ten dort noch zwei Dut­zend sog. Stern­trä­ger und eini­ge jüdi­sche Part­ner von „Misch­ehen”, die sich der letz­ten Depor­ta­ti­on hat­ten ent­zie­hen können.

Im Som­mer kehr­ten weni­ge Über­le­ben­den zurück. Vie­le folg­ten geflo­he­nen Ange­hö­ri­gen und Bekann­ten in die Emi­gra­ti­on. Die neue Jüdi­sche Gemein­de bil­de­ten spä­ter vor­nehm­lich Über­le­ben­de aus Ost­eu­ro­pa. Die ers­ten Reprä­sen­tan­ten waren jedoch alte Stutt­gar­ter, u.a. Ben­no Oster­tag und Alfred Marx, die dank der Treue ihrer Ehe­frau­en über­lebt hat­ten, sowie Josef War­scher, der aus Buchen­wald zurück­kam. Sie hat­ten nach der Shoa den Mut zu einem Leben als jüdi­sche Deutsche.

Roland Mül­ler