Sehr geehrte Damen und Herrn, Zuhörende und Zusehende,
bei der Vorbereitung dieser Veranstaltung fiel mir die Aufgabe zu, die Deportation nach Izbica und den historischen Kontext in knappen Worten zu erläutern.
Inzwischen ist mir auch die ehrenvolle Aufgabe übertragen worden, bei dieser Feierstunde Herrn Oberbürgermeister Dr. Nopper zu vertreten, der leider anderweitige terminliche Verpflichtungen wahrnehmen muss.
Gestatten Sie deshalb einige Bemerkungen über den historischen Beitrag hinaus.
Unsere Feierstunde steht in unmittelbarer Verbindung mit einer Gedenkstunde, bei der gestern der Verein Zeichen der Erinnerung und das Bildungszentrum Hospitalhof mit weiteren Mitveranstalter aus Anlass des Jahrestags der Deportation an verfemte Komponisten und Lyrikerinnen erinnert haben. Dieser Abend fand statt im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Angesichts der damit verbundenen Geschichte von Verfemung, Vertreibung und Pogromen ist die Bezeichnung „Festjahr“ bemerkenswert. Ich finde sie jedoch angemessen, die lange Geschichte jüdischen Lebens im Gebiet des heutigen Deutschland bei aller Relevanz in all ihren Aspekten und Beziehungen darzustellen, eine Geschichte, die es vielfach noch zu entdecken gilt. Nicht zuletzt haben jüdische Menschen entscheidend zum Aufbruch Deutschlands in die Moderne beigetragen.
Diese Geschichte ist in der Form der viel berufenen deutsch-jüdischen Symbiose mit der Shoa zu Ende gegangen. Aber es gibt wieder jüdisches Leben in Deutschland.
Die Stuttgarter Gemeinde ist im Juni 1945 als eine der ersten überhaupt nach der Befreiung gegründet worden und hat als eine der ersten 1952 eine Synagoge gebaut
– sie wird auch ein Thema der Open-Air-Ausstellung des Stadtarchivs zum Festjahr über die Architekten Oscar Bloch und Ernst Guggenheimer sein.
Für dieses jüdische Leben sind wir angesichts der Geschichte dankbar. Oder, wie Bundespräsident Steinmaier bei der Eröffnung des Festjahres gesagt hat: „Welch unermessliches Glück für unser Land!“
Ja, aber auch: Welche Schande! Wir gedenken heute der deportierten und ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus Stuttgart, Südwestdeutschland und Luxemburg. Und zugleich müssen wir feststellen, dass antisemitische und
rassistische Straftaten zunehmen, dass Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft salonfähig fähig wird. Wie oft ist in den letzten Jahren beschworen worden, dass Antisemitismus ein Angriff auf die Grundpfeiler unserer Demokratie darstellt, dass es eine Aufgabe der staatlichen Institutionen wie der Zivilgesellschaft, jedes einzelnen ist, sich aktiv jeder Form von Antisemitismus entgegenzustellen.
Es gibt viele engagierte Menschen. In unserer Stadt ist das bürgerschaftliche Engagement groß und hat vieles bewirkt, auch die Errichtung dieses „Zeichens der Erinnerung“. Aber – zumal angesichts der Ungewissheiten der Pandemie – nehmen Beleidigungen und Hass zu, werden die Opfer der Shoa von sogenannten Querdenkern durch die Okkupation des „Gelben Sterns“ verhöhnt. Unsere Stadt ist sogar ein Kristallisationspunkt dieser Bewegung.
Auch wir müssen uns deshalb fragen, ob wir das Richtige getan haben. Waren und sind wir zu selbstgerecht; es gibt ja den Terminus von deutschen Weltmeistern des Erinnerns? Haben wir zu wenig erklärt, zu viel moralisiert? Haben wir zu sehr auf uns selbst geschaut?
Und ich frage mich, wohin es führen soll und was die Absicht jener ist, die die Shoa als eines unter anderen Menschheitsverbrechen, insbesondere des Kolonialismus, deuten. Unlängst haben einige Wissenschaftler die Auffassung von der Singularität des Holocaust als „provinziell“ bezeichnet, schlichtere Gemüter sprechen in diesem Kontext von einer überholten Erinnerungskultur. Gerade der eingeforderte Vergleich mit den kolonialen Verbrechen zeigt: Juden wurden nicht ermordet, weil sie politische Gegner waren, weil man ihr Land erobern oder weil man sie ausbeuten wollte. Juden wurden ermordet, weil sie Juden waren. Dies begründet eine Singularität – die dennoch nicht die mörderischen Verbrechen der Kolonialisten verharmlost.
Wir sollten uns, wenn wir heute der Ermordeten gedenken, diese Fragen sowohl in Verantwortung gegenüber diesen Menschen wie auch angesichts der aktuellen Entwicklungen am Ende der Epoche der Zeitzeugenschaft stellen. Angemessenes Erinnern bedarf ohnehin stets einer Perspektive für Gegenwart und Zukunft.
Ein sehr herzlicher Dank, auch namens des Herrn Oberbürgermisters, gilt Ihnen, lieber Herr Keller, der Sie dieses Erinnern initiiert und vorbereitet haben. Dank ebenso allen an Beteiligten an dieser Feierstunde, besonders Beate Müller für Recherche und Zusammenstellung der Namen der Deportierten auch aus Baden, der Pfalz und aus Luxemburg, die nachher verlesen werden.