Anrede
In diesem Jahr sind es 1700 Jahre, dass es jüdisches Leben und jüdische Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands nachweisbar gibt. Eine lange Zeit bevor sich staatliche Strukturen eines Deutschlands überhaupt gebildet hatten und auch noch kein kirchliches Leben.
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland ist Grund zur Freude und zur Dankbarkeit. Schauen wir aber auf den Anlass unseres heutigen Zusammenkommens, so müssen wir sagen: 1700 Jahre jüdisches Leben und Sterben in Deutschland. Und das ist ein Grund des Erschreckens und der tiefen Trauer.
Zu diesen 1700 Jahren gehören auch Verfolgung, Pogrome und Deportationen. Der Tiefpunkt dieser Trias markiert den Holocaust, die fast gänzliche Auslöschung jüdischen Lebens in Deutschland und Europa.
In einer Zeit neuer Gedankenlosigkeit, und stärker auftretendem Antisemitismus, in einer Zeit, in der auch freche Lüge und hasserfüllte Sprache ihr Haupt erhebt, haben wir innezuhalten, haben wir uns unterbrechen zu lassen, bleiben wir an einem Stolperstein in der Geschichte dieses Landes, dieser Stadt stehen. Trotz der nicht einfachen äußeren Umstände ist mir dieses Gedenken hier im Hospitalhof von großer Wichtigkeit und ich danke allen, die dies vorbereitet und ermöglicht haben.
Gedenken
Heute gedenken wir der Menschen, die am 26. April 1942 hier in Stuttgart vom Killesberg über den Nordbahnhof nach Izbica deportiert worden sind: das heißt entrechtet, gedemütigt, gewaltsam verschleppt und schließlich ermordet worden sind. Nachbarinnen und Nachbarn.
Niemand hat jene Deportation überlebt; Professor Müller wird uns nachher die Fakten vermitteln.
Wir werden auch zwei Namen der Täter von damals hören. Zwei Vornamen nenne ich, weil sie mich schockieren und weil sie fast hinausschreien, welche Schuld Christen und Kirche auf sich geladen haben. In den 1700 Jahren, pars pro toto jene von 1942 hier in Stuttgart. Einer heißt mit Vornamen Christian, der andere Gottlob. Es fällt schwer, diese Namen auszusprechen, weil sie in diesem Zusammenhang blasphemisch wirken. Wie ein Hohn.
Aber diese beiden Namen halten uns den Spiegel vor Augen und so bekennen wir die Schuld, die Christen und die Kirche auf sich geladen haben. Auch in Württemberg, auch in Stuttgart. Auch aus Familien, in denen ein Christian und ein Gottlob getauft wurde, kamen die Täter. Es ist auch unsere Kirchen – Geschichte.
Historiker haben ja nicht nur die Aufgabe, Ereignisse zu dokumentieren. Sie müssen sie auch sortieren und einordnen. Die Verbrechen aber, die an jüdischen Menschen verübt worden sind, entziehen sich jeder Kategorisierung und Einordnung und damit eben Relativierung. Das wird sich auch durch den historischen Abstand nicht verändern, sondern uns bleiben. Das will ich heute unterstreichen.
Ich habe noch in eindrücklicher Erinnerung, wie ich vor einigen Jahren mit Schülerinnen und Schülern an der Gedenkstelle – mit dem Wagon auf den Gleisen- am Nordbahnhof stand. Sie hatten sich im Unterricht vorbereitet. Es ging um die Verfolgung der Jüdinnen und Juden und die der Sinti und Roma. Lebensgeschichten kamen vor Augen. Familiengeschichten. Leidensgeschichten. Die Gleise aus Stuttgart führten in die Todeswirklichkeit der Vernichtungslager. Das Schweigen war groß. Worte kaum zu finden, man lieh sie sich von den wenigen Überlebenden.
Ich will auf den jüdischen Rabbiner und christlichen Apostel Paulus hören. Erneut. Im Gedenken am heutigen Tag. Im Römerbrief begründet er die bleibende Erwählung Israels als sein Volk. Er erinnert die junge christliche Gemeinde daran, dass Israel bleibend die Wurzel ist, von der auch wir leben. (Römer 11,18).
Wir müssen daran immer wieder erinnern.
Wir müssen immer wieder unsere Stimme erheben, wenn den Deportierten, derer wir heute gedenken, aufs neue Unrecht angetan wird.
Es ist bitter, dass es bis heute Antisemitismus in unserem Land gibt; ein Tag der Erinnerung wie heute erweist die Schamlosigkeit derer, die von ihrem Hass nicht ablassen.
Gedenken – Unterbrechen – Hören.
Das wollen und sollen wir heute.
Mit Ausdauer wollen wir eintreten für Gerechtigkeit, für Klarheit und Wahrheit und dem Überwinden von Hass, Dumpfheit und Hemmungslosigkeit der Lüge. Diese Ausdauer hat ihren Grund in Gott, dem wir unsere Schuld bekennen und den wir bitten um sein Geleit in die Zukunft.