Niemand überlebte die Deportation am 26. April 1942 vom Killesberg über den Inneren Nordbahnhof nach Izbica. Von über 17.000 Menschen, die im Frühjahr 1942 aus dem sogenannten Altreich in den Distrikt Lublin verschleppt wurden, überlebten keine 20, aus dem Transitghetto Izbica nur zwei Menschen. Insofern ist es kaum überraschend, dass diese Deportation in der Erinnerungskultur weniger Beachtung fand als jene nach Riga und Theresienstadt, über die wenige Überlebende berichten konnten.
Izbica war ein Schtetl mit etwa 6000 Einwohnern fast ausschließlich jüdischen Glaubens. Schon seit 1939 waren dorthin jüdische Bewohner aus Westpolen verschleppt worden. 1942 wurde es zum Vorhof der Vernichtungslager Bełzec und Sobibór. Anfang 1942 erfuhren die Besatzungsbehörden im Distrikt Lublin von Deportationen aus anderen deutschen Herrschaftsgebieten. Sie planten daraufhin, die polnisch-jüdischen Einwohner umzubringen, um Platz für weitere Deportierte zu schaffen. Doch die Entscheidung zum Mord an allen Juden Europas war gefallen; in Belzec und Sobibor baute man bereits an Mordstätten. Am 17. März 1942 nahm Belzec seinen Betrieb auf. Und Izbica entwickelte sich zum größten mehrerer Transitghettos, die an den Bahnstrecken zu den Vernichtungslagern gelegen Konzentration und rasche Verschleppung ermöglichten.
Lange war die Zahl der Deportierten aus Stuttgart unklar. Einerseits waren die Deportationen stets auf tausend Personen berechnet. Andererseits hatte die Jüdische Gemeinde 1957 wenig mehr als 270 Deportierten aus Württemberg und Hohenzollern ermittelt; im verdienstvollen Projekt der Archivverwaltung unter Leitung von Paul Sauer war diese Zahl in den 1960-er Jahren bestätigt worden. Erst vor drei Jahren hat Steffen Hänschen, damals auch zu Gast im Stadtarchiv, für Klarheit gesorgt: Über Stuttgart sind auch 24 Juden aus Luxemburg, 53 aus Trier sowie 75 aus Baden und 17 aus der Pfalz deportiert worden – insgesamt also über 440 Menschen. Übrigens stammten zwar 143 Personen aus Stuttgart, aber nur 91 hatten dort noch gewohnt – ein Verweis auf die vorausgegangenen Zwangs-umsiedlungen.
Am 24. April kam der Zug aus Trier über Karlsruhe in Stuttgart an, bewacht von der regulären, der Ordnungspolizei. Im Sammellager in der Ländlichen Gaststätte am Nordausgang übernahm die Gestapo die Regie.
Auch dieses Mal hatten die Betroffenen eine vielseitige Vermögenserklärung für die Bequemlichkeit der Räuber abzugeben; mit dem Überschreiten der Reichsgrenze fiel das Vermögen an den Staat. Dienststellen von Staat und NSDAP sowie bei Versteigerungen die Nachbarn stritten sich um die Habe. Auf die Fiktion einer Umsiedlung, wie sie bei der Riga-Deportation durch Mitnahme von Gerätschaften und Ausrüstungsgegenständen erweckt worden war, verzichtet die Gestapo dieses Mal; nur Reisegepäck, Wolldecken und Kissen waren erlaubt. Die Fahrt vom Inneren Nordbahnhof dauerte drei schrecklich lange Tage; bei einem Halt am Lager „Alter Flugplatz“ in Lublin wurden wie stets arbeitsfähige Männer selektiert.
Izbica erreichte der Zug aus Stuttgart am 29. April. Es gab kein bewachtes Lager; die Deportierten presste man zu den Einheimischen, sodass in schlichten Holzhäusern oft mehr als zehn Familien zusammenwohnten. Zum Schock der Verschleppung kam die Verzweiflung über die Lebensbedingungen; die Brotration für Nichtarbeitende betrug 50 Gramm am Tag. Aber auch wer arbeitsfähig war, fand keine Beschäftigung. Ständig vom Tode bedroht vegetierten die Menschen buchstäblich dahin.
Wir kennen keine Einzelschicksale der Stuttgarter Deportation. Mitte Mai wurden über die Kreisstadt Krasnystaw rund 400 Menschen aus Izbica mit Juden aus Nachbarorten ins Vernichtungslager Sobibór verschleppt; am 8. Juni betraf eine Deportation nach Belzec wohl die Nicht-Arbeitsfähigen. Nach großen Deportationen im Oktober und November sollte Izbica „judenfrei“ sein; ein verbliebenes kleines Ghetto wurde im April 1943 liquidiert.
In den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka überlebten die Menschen nur wenige Stunden. Den größten Teil der Mannschaften stellten dort sogenannte Trawniki, nach einem Ausbildungslager bei Lublin so benannte meist ukrainische Kriegsgefangene. Die Leitung lag bei einem Kreis von SS-Leuten, die zuvor, wie in Grafeneck, Kranke und Behinderte umgebracht hatten – eine Gruppe von rund hundert Tötungsexperten, die etwaige Skrupel längst hinter sich gelassen hatten.
Christian Wirth, Polizeibeamter aus Degerloch und dann führend am Krankenmord beteiligt, war von Dezember 1941 bis Juli 1942 Lagerleiter in Belzec, dann Inspekteur der drei Vernichtungslager der Aktion Reinhardt. Sein Nachfolger in Belzec war Gottlob Hering aus Warmbronn, der als Polizist bis 1933 als Nazi-Gegner galt und dann ebenfalls am Krankenmord beteiligt war.
Sie waren Nachbarn – die Opfer und die Täter.
© 2021 Prof. Dr. Roland Müller