26.04.2021 · Landtagspräsidentin Muhterem Aras

Sehr geehr­ter Herr Kel­ler,
sehr geehr­ter Herr Prof. Mül­ler,
sehr geehr­ter Herr Kashi,
sehr geehr­ter Herr Gold­man,
lie­be Künst­le­rin­nen und Künstler,

zunächst vie­len Dank an Sie alle für Ihren Beitrag.

In die­sen Dank schlie­ße ich die Betei­lig­ten des gest­ri­gen Kon­zerts zur Erin­ne­rung an ver­fem­te Kom­po­nis­ten und Lyri­ke­rin­nen im Hos­pi­tal­hof ein.

Die Gedenk­stät­te schreibt dazu – Zitat :

Es ist unser Anlie­gen, aus Asche und Ver­lust das mensch­li­che Ant­litz der Opfer zu ber­gen und Fami­li­en und Gemein­den sowie deren Kul­tur sicht­bar zu machen, die wäh­rend des Holo­caust ver­nich­tet wurden.“

Aus eige­ner Anschau­ung kann ich sagen:
Die Opfer aus der Anony­mi­tät zu holen und ihnen ihre Geschich­te zurück zu geben, ver­stärkt die emo­tio­na­le Wir­kung von Gedenken.

Und es fes­tigt unser Ver­ständ­nis für den Sinn von Geden­ken.
Wenn wir uns durch unse­re Städ­te und Gemein­den bewe­gen und zum Bei­spiel an den Stol­per­stei­nen inne­hal­ten mit den Namen der Men­schen, die von dort ver­trie­ben wurden,

dann ste­hen wir im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes auf einem Fun­da­ment unse­rer Gesell­schaft heute.

Die Erin­ne­rung an den Holo­caust, an sei­ne Vor­ge­schich­te und sei­ne Nach­wir­kun­gen ist immer auch eine Besin­nung auf unse­re Grundwerte.

Unser wun­der­ba­res Grund­ge­setz ist in viel­fa­cher Hin­sicht eine Ant­wort auf den Holo­caust, den Ter­ror der NS-Zeit und die Mecha­nis­men, die das mög­lich gemacht haben.

Unse­re Ver­fas­sung ist ein in Grund­rech­te gegos­se­nes „Nie wieder“.

Damit wir uns das immer wie­der ins Bewusst­sein rufen, brau­chen wir als Gesell­schaft eine leben­di­ge Erinnerungsarbeit.

Wir brau­chen ein Geden­ken, das berührt und uns dadurch anregt über das Hier und Heu­te nachzudenken.

Das habe ich auch aus mei­nen zahl­rei­chen Besu­chen in Gedenk­stät­ten im Land und Gesprä­chen mit den dort täti­gen Haupt- und Ehren­amt­li­chen mit­ge­nom­men. Und dafür set­ze ich mich als Land­tags­prä­si­den­tin ent­schie­den ein.

Die heu­ti­ge Ver­an­stal­tung, die Recher­che der Opfer, ihrer Schick­sa­le sowie das Enga­ge­ment der Gedenk­stät­te Nord­bahn­hof set­zen die­sen Anspruch in die Tat um. 

Wir hören heu­te die Namen der Men­schen, die von die­sem Ort depor­tiert wur­den
– Her­mi­ne Hal­ler aus Stutt­gart, Ella Fuchs aus Schwä­bisch Gmünd, Josef Stein­berg aus Pforz­heim und Hun­der­te weitere.

Damit hören wir auch:
Die­se Ver­bre­chen wur­den nicht an einer abs­trak­ten Zahl von Opfern ver­übt. Son­dern an Mit­men­schen mit Namen und einer Geschichte.

Sie leb­ten, wo wir heu­te leben.
Ihre Hei­mat ist heu­te unse­re Hei­mat.
Sie sind Teil unse­rer Geschichte.

Zugleich zeigt die Auf­ar­bei­tung der Depor­ta­tio­nen vom Stutt­gar­ter Nord­bahn­hof, dass die Erfor­schung der NS-Zeit ein andau­ern­der Pro­zess ist.

Es hat lan­ge und bis in jüngs­te Zeit gedau­ert, bis wir wirk­lich wuss­ten, wie­vie­le Men­schen von hier aus in den Tod geschickt wur­den. Und vor allem: wer sie waren.

Die­se Auf­ar­bei­tung hilft uns nicht nur zu VER-ste­hen. Es hilft uns vor allem, zu WIDER-stehen.

Geden­ken stärkt uns, Extre­mis­mus, Hass und Men­schen­ver­ach­tung ent­schie­den entgegenzutreten.

Auch des­we­gen sind wir heu­te hier.

Die Schick­sa­le von Her­mi­ne Hal­ler, Ella Fuchs, Josef Stein­berg und vie­len vie­len wei­te­ren mah­nen uns, Angrif­fe auf die Grund­wer­te unse­rer Gesell­schaft ent­schlos­sen abzu-wehren. 

Zum Auf­takt des dies­jäh­ri­gen Holo­coust-Geden­kens im Janu­ar sag­te Rami Suli­man,  Vor­sit­zen­der der Israe­li­ti­schen Reli­gi­ons­ge­mein­schaft Baden – ich zitie­re:
„Wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie muss­ten wir mit­ver­fol­gen, dass Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien bis heu­te einen Nähr­bo­den fin­den. Umso wich­ti­ger ist die Erin­ne­rung wohin sol­ches Den­ken füh­ren kann.“

Mei­ne Damen und Herren,

wer die Coro­na-Pro­tes­te in Stutt­gart und anders­wo – vor allem aber deren Mobi­li­sie­rung im Netz –  ver­folgt, der stößt auf zahl­rei­che anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­my­then, die ledig­lich an den Kon­text der Pan­de­mie ange­passt werden.

Der Nähr­bo­den, von dem Herr Suli­man sprach, ist erschre­ckend groß:
Die Auto­ri­ta­ris­mus-Stu­die der Uni Leip­zig misst in ihren Befra­gun­gen 2020 bis zu zehn Pro­zent mani­fes­te Zustim­mung zu anti­se­mi­ti­schen Äuße­run­gen wie:
„der Ein­fluss der Juden sei zu groß“,
„Juden arbei­te­ten mehr als ande­re Men­schen mit üblen Tricks“ oder
„Juden hät­ten etwas Eigen­tüm­li­ches an sich und pass­ten nicht so recht zu uns.“

Ver­schwö­rungs­my­then

 wie sie aktu­ell zur Coro­na-Pan­de­mie flo­rie­ren – also von einer angeb­li­chen zio­nis­ti­schen Welt­re­gie­rung bis zu Bill Gates, der zum Juden erklärt wird, wohl damit er dämo­ni­scher erscheint – bezeich­net die Stu­die als eine Ein­stiegs­dro­ge für rechts­extre­mes Gedankengut.

Auch Felix Klein, Beauf­trag­ter der Bun­des­re­gie­rung für jüdi­sches Leben in Deutsch­land, sieht Juden­hass im Zuge der Coro­na-Pan­de­mie wei­ter anstei­gen. In vie­len Krei­sen sei er wie­der gesellschaftsfähig.

Zugleich erle­ben wir in aktu­el­len Debat­ten eine Täter-Opfer-Umkehr.

In der Agi­ta­ti­on von Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gen wer­den demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen gleich­ge­setzt mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus.
Demons­tran­ten pro­vo­zie­ren mit Anspie­lun­gen auf so genann­te Juden­ster­nen, die sie sich anhef­ten.
Red­ne­rin­nen und Red­ner – auf vom Rechts­staat geschütz­ten Demons­tra­tio­nen – ver­glei­chen sich mit Anne Frank oder Sophie Scholl.
Extre­mis­ten sti­li­sie­ren sich durch die­se Geschichts­klit­te­rei zu Wider­stands­kämp­fern, die sich zum Ein­satz aller Mit­tel legi­ti­miert sehen.
Und schaf­fen damit womög­lich einen ideo­lo­gi­schen Grund­stein für Gewalttaten.

Auch in poli­ti­schen Debat­ten wird der Bezug zum NS-Ter­ror immer häu­fi­ger für poli­ti­sche Zwe­cke miss­braucht. Im Land­tag von Baden-Würt­tem­berg ver­geht inzwi­schen kaum eine Sit­zung ohne Faschis­mus-Ver­glei­che.
Beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben ist mir eine Debat­te, in der sogar die Zurück­wei­sung von Anti­se­mi­tis­mus als NS-Metho­de gegei­ßelt wur­de. Ein Abge­ord­ne­ter mein­te, wie es im Land­tag zuge­he sei – Zitat – „schlim­mer als in der Nazi-Zeit“. Und was hat­te ihn so empört?
Die Mehr­heit des Par­la­ments hat­te die Ver­brei­tung anti­se­mi­ti­scher Ver­schwö­rungs­my­then durch ein ande­res Mit­glied des Land­ta­ges scharf kritisiert.

Mei­ne Damen und Herren,

damit gro­tes­ke Umdeu­tun­gen des Natio­nal­so­zia­lis­mus nicht irgend­wann zum nor­ma­len Bestand­teil poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen wer­den, müs­sen wir das Fun­da­ment unse­rer Erin­ne­rungs­kul­tur pfle­gen und festigen.

Der Miss­brauch der Erin­ne­rung an den Hor­ror, den der Faschis­mus über Deutsch­land, Euro­pa und die Welt gebracht hat, läuft ins Lee­re, wenn wir der Opfer sicht­bar geden­ken, wenn wir uns ihre Namen und ihre Geschich­ten ins Gedächt­nis rufen. 
Dazu leis­tet der heu­ti­ge Tag, die­ser Gedenk­ort und die uner­müd­li­che Arbeit aller Betei­lig­ten einen unschätz­ba­ren Beitrag.

Dafür dan­ke ich Ihnen von gan­zem Herzen.