Sehr geehrter Herr Keller,
sehr geehrter Herr Prof. Müller,
sehr geehrter Herr Kashi,
sehr geehrter Herr Goldman,
liebe Künstlerinnen und Künstler,
zunächst vielen Dank an Sie alle für Ihren Beitrag.
In diesen Dank schließe ich die Beteiligten des gestrigen Konzerts zur Erinnerung an verfemte Komponisten und Lyrikerinnen im Hospitalhof ein.
Die Gedenkstätte schreibt dazu – Zitat :
„Es ist unser Anliegen, aus Asche und Verlust das menschliche Antlitz der Opfer zu bergen und Familien und Gemeinden sowie deren Kultur sichtbar zu machen, die während des Holocaust vernichtet wurden.“
Aus eigener Anschauung kann ich sagen:
Die Opfer aus der Anonymität zu holen und ihnen ihre Geschichte zurück zu geben, verstärkt die emotionale Wirkung von Gedenken.
Und es festigt unser Verständnis für den Sinn von Gedenken.
Wenn wir uns durch unsere Städte und Gemeinden bewegen und zum Beispiel an den Stolpersteinen innehalten mit den Namen der Menschen, die von dort vertrieben wurden,
dann stehen wir im wahrsten Sinne des Wortes auf einem Fundament unserer Gesellschaft heute.
Die Erinnerung an den Holocaust, an seine Vorgeschichte und seine Nachwirkungen ist immer auch eine Besinnung auf unsere Grundwerte.
Unser wunderbares Grundgesetz ist in vielfacher Hinsicht eine Antwort auf den Holocaust, den Terror der NS-Zeit und die Mechanismen, die das möglich gemacht haben.
Unsere Verfassung ist ein in Grundrechte gegossenes „Nie wieder“.
Damit wir uns das immer wieder ins Bewusstsein rufen, brauchen wir als Gesellschaft eine lebendige Erinnerungsarbeit.
Wir brauchen ein Gedenken, das berührt und uns dadurch anregt über das Hier und Heute nachzudenken.
Das habe ich auch aus meinen zahlreichen Besuchen in Gedenkstätten im Land und Gesprächen mit den dort tätigen Haupt- und Ehrenamtlichen mitgenommen. Und dafür setze ich mich als Landtagspräsidentin entschieden ein.
Die heutige Veranstaltung, die Recherche der Opfer, ihrer Schicksale sowie das Engagement der Gedenkstätte Nordbahnhof setzen diesen Anspruch in die Tat um.
Wir hören heute die Namen der Menschen, die von diesem Ort deportiert wurden
– Hermine Haller aus Stuttgart, Ella Fuchs aus Schwäbisch Gmünd, Josef Steinberg aus Pforzheim und Hunderte weitere.
Damit hören wir auch:
Diese Verbrechen wurden nicht an einer abstrakten Zahl von Opfern verübt. Sondern an Mitmenschen mit Namen und einer Geschichte.
Sie lebten, wo wir heute leben.
Ihre Heimat ist heute unsere Heimat.
Sie sind Teil unserer Geschichte.
Zugleich zeigt die Aufarbeitung der Deportationen vom Stuttgarter Nordbahnhof, dass die Erforschung der NS-Zeit ein andauernder Prozess ist.
Es hat lange und bis in jüngste Zeit gedauert, bis wir wirklich wussten, wieviele Menschen von hier aus in den Tod geschickt wurden. Und vor allem: wer sie waren.
Diese Aufarbeitung hilft uns nicht nur zu VER-stehen. Es hilft uns vor allem, zu WIDER-stehen.
Gedenken stärkt uns, Extremismus, Hass und Menschenverachtung entschieden entgegenzutreten.
Auch deswegen sind wir heute hier.
Die Schicksale von Hermine Haller, Ella Fuchs, Josef Steinberg und vielen vielen weiteren mahnen uns, Angriffe auf die Grundwerte unserer Gesellschaft entschlossen abzu-wehren.
Zum Auftakt des diesjährigen Holocoust-Gedenkens im Januar sagte Rami Suliman, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden – ich zitiere:
„Während der Corona-Pandemie mussten wir mitverfolgen, dass Verschwörungsideologien bis heute einen Nährboden finden. Umso wichtiger ist die Erinnerung wohin solches Denken führen kann.“
Meine Damen und Herren,
wer die Corona-Proteste in Stuttgart und anderswo – vor allem aber deren Mobilisierung im Netz – verfolgt, der stößt auf zahlreiche antisemitische Verschwörungsmythen, die lediglich an den Kontext der Pandemie angepasst werden.
Der Nährboden, von dem Herr Suliman sprach, ist erschreckend groß:
Die Autoritarismus-Studie der Uni Leipzig misst in ihren Befragungen 2020 bis zu zehn Prozent manifeste Zustimmung zu antisemitischen Äußerungen wie:
„der Einfluss der Juden sei zu groß“,
„Juden arbeiteten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks“ oder
„Juden hätten etwas Eigentümliches an sich und passten nicht so recht zu uns.“
Verschwörungsmythen
wie sie aktuell zur Corona-Pandemie florieren – also von einer angeblichen zionistischen Weltregierung bis zu Bill Gates, der zum Juden erklärt wird, wohl damit er dämonischer erscheint – bezeichnet die Studie als eine Einstiegsdroge für rechtsextremes Gedankengut.
Auch Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland, sieht Judenhass im Zuge der Corona-Pandemie weiter ansteigen. In vielen Kreisen sei er wieder gesellschaftsfähig.
Zugleich erleben wir in aktuellen Debatten eine Täter-Opfer-Umkehr.
In der Agitation von Verschwörungsideologen werden demokratische Institutionen gleichgesetzt mit dem Nationalsozialismus.
Demonstranten provozieren mit Anspielungen auf so genannte Judensternen, die sie sich anheften.
Rednerinnen und Redner – auf vom Rechtsstaat geschützten Demonstrationen – vergleichen sich mit Anne Frank oder Sophie Scholl.
Extremisten stilisieren sich durch diese Geschichtsklitterei zu Widerstandskämpfern, die sich zum Einsatz aller Mittel legitimiert sehen.
Und schaffen damit womöglich einen ideologischen Grundstein für Gewalttaten.
Auch in politischen Debatten wird der Bezug zum NS-Terror immer häufiger für politische Zwecke missbraucht. Im Landtag von Baden-Württemberg vergeht inzwischen kaum eine Sitzung ohne Faschismus-Vergleiche.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine Debatte, in der sogar die Zurückweisung von Antisemitismus als NS-Methode gegeißelt wurde. Ein Abgeordneter meinte, wie es im Landtag zugehe sei – Zitat – „schlimmer als in der Nazi-Zeit“. Und was hatte ihn so empört?
Die Mehrheit des Parlaments hatte die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen durch ein anderes Mitglied des Landtages scharf kritisiert.
Meine Damen und Herren,
damit groteske Umdeutungen des Nationalsozialismus nicht irgendwann zum normalen Bestandteil politischer Auseinandersetzungen werden, müssen wir das Fundament unserer Erinnerungskultur pflegen und festigen.
Der Missbrauch der Erinnerung an den Horror, den der Faschismus über Deutschland, Europa und die Welt gebracht hat, läuft ins Leere, wenn wir der Opfer sichtbar gedenken, wenn wir uns ihre Namen und ihre Geschichten ins Gedächtnis rufen.
Dazu leistet der heutige Tag, dieser Gedenkort und die unermüdliche Arbeit aller Beteiligten einen unschätzbaren Beitrag.
Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen.