* 16. Dezember 1888 in Esslingen am Neckar,
† 14. Mai 1945 in Egg/Vorarlberg
Vizefeldwebel und Staatspräsident
»Wir sagen nicht Aug’ um Auge, Zahn um Zahn, nein, wer uns ein Auge einschlägt, dem werden wir den Kopf abschlagen, wer uns einen Zahn ausschlägt, dem werden wir den Kiefer einschlagen.« Es ist der Abend des 15. März 1933, als Wilhelm Murr auf einer Kundgebung deutlich formuliert, wie sich der Führungsstil der neuen Machthaber gestalten wird. Wenige Stunden zuvor hatte sich Murr zum Staatspräsidenten von Württemberg wählen lassen. Die Wahl war eine abgesprochene Sache: Die Kommunisten waren bereits aus dem Landesparlament ausgeschlossen und die DDP und das Zentrum hatten sich an ihr Versprechen gehalten und weiße Stimmzettel abgegeben. Lediglich die Sozialdemokraten hatten gegen Murr gestimmt. Die gesetzliche Gleichschaltung der Länder bringt erhebliche Veränderungen in deren politischen Aufbau. Die eigentliche Macht liegt nun bei den neu geschaffenen Reichstatthaltern, in Württemberg übernimmt Murr am 5. Mai 1933 dieses Amt. In den folgenden Monaten richtet er erhebliche Energie darauf, Konkurrenten in der NSDAP und Opponenten in Verwaltung und Gesellschaft auszuschalten.
Wilhelm Murr entstammt einer Handwerkerfamilie, die in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt. Seine Stiefschwester Anna Maria nimmt ihn zu sich, als er mit vierzehn Jahren Vollwaise wird. Nach einer Lehre und dem Wehrdienst arbeitet er als kaufmännischer Angestellter in der Maschinenfabrik Esslingen. Im Ersten Weltkrieg verwundet, steigt Murr nach seiner Genesung bis zum Vizefeldwebel auf. Nach dem Krieg arbeitet er wieder für seinen alten Arbeitgeber als Lagerverwalter. Antidemokratisch, ultranational und antisemitisch eingestellt, findet Murr politisch Gleichgesinnte in der NSDAP, der er 1922 beitritt. Querelen in der Partei und der Mangel an Führungspersönlichkeiten im Südwesten des Reiches bringen ihn 1928 in das Amt des NSDAP-Gauleiters für Württemberg-Hohenzollern. Die Deportationen der württembergischen und hohenzollerschen Juden geschehen nicht auf seine direkte Anordnung, aber er befürwortet sie. Oft genug hat er in seinen Reden das Judentum diffamiert als »die Wurzel allen Übels, dem das Handwerk gelegt werden« müsse. Noch auf der Flucht vor den Alliierten gibt Murr pathetische Durchhalteparolen aus, in völliger Verkennung der realen Situation. Am 13. Mai 1945 wird das Ehepaar Murr, das sich als Walter und Luise Müller ausgibt, auf einer Almhütte verhaftet und in das Internierungslager nach Egg (Vorarlberg) gebracht. Beide vergiften sich kurz nacheinander, ohne dass die wahre Identität bekannt wird. Erst ein Jahr später wird auf Betreiben der Alliierten das Grab geöffnet und Murrs ehemaliger Zahnarzt identifiziert die Leiche einwandfrei als den Gesuchten. mm
Paul Sauer: Wilhelm Murr – Hitlers Statthalter in Württemberg. Tübingen 1998.