* 13. Januar 1899 in Stuttgart,
† Mitte/Ende Oktober 1944 in Auschwitz
»Ich arbeite viel und Trauriges, aber manchen Menschen kann ich helfen«
Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften tritt Ella Reis die Nachfolge ihres Vaters als Rechtsanwalt an. Richard Reis führt eine der renommiertesten Stuttgarter Anwaltskanzleien, in welcher der junge Otto Hirsch im Jahr 1907 seine erste Anstellung findet. Richard Reis ist von 1904 bis 1910 Mitglied des Stuttgarter Gemeinderats und von 1922 bis 1932 Vorstandsmitglied der Anwaltskammer. Wie ihr Vater schließt auch Ella Reis das Studium mit der Promotion ab. Ihre Ehe wird nach kurzer Zeit geschieden. 1932 wird sie als Rechtsanwältin zugelassen. Schon Anfang April 1933 verliert sie durch das »Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft« jedoch schon wieder ihre Zulassung und erhält sie auch nicht mehr zurück. Fortan arbeitet sie bei der jüdischen Gemeinde in Stuttgart. Diese hat in den Räumen des Gemeindehauses in der Hospitalstraße 36 sämtliche jüdischen Verwaltungsabteilungen untergebracht, darunter auch den »Jüdischen Zentralverein«, bei dem Ella Kessler-Reis als Sekretärin tätig ist. Politisch den Sozialdemokraten nahe stehend und religiös der evangelischen Kirche zugeneigt, befasst sie sich erst im Zuge dieser Anstellung mit dem Judentum und dem jüdischen Glauben, der ihr vermutlich bis zu ihrem Tod mehr oder weniger fremd bleibt. Nach den Novemberpogromen 1938 entsteht nach anfänglichem Chaos eine jüdische »Notstandsverwaltung«, die so genannte »Mittelstelle«. Statt sich um das kulturelle Leben zu kümmern, steht für die »Mittelstelle« jetzt nur noch das bloße Überleben ihrer jüdischen Gemeindemitglieder im Vordergrund. Leiter ist der Musiker Karl Adler, ehemaliger Direktor des Konservatoriums für Musik in Stuttgart. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Verhafteten zu befreien und so möglichst vielen Gemeindemitgliedern bei der Flucht zu helfen. Unter der Leitung von Thekla Kauffmann, die später selbst auswandert, arbeitet sich Ella Kessler-Reis in die Auswandererhilfe ein. »Ich arbeite viel und Trauriges, aber manchem Menschen kann ich helfen«, schreibt sie an eine Freundin. Mit dem Verbot der Auswanderung im Jahr 1941 ist für Kessler-Reis selbst die Emigration nicht mehr möglich. Sie versucht, das Warten auf etwas, das nur Schrecken bedeuten kann, aus dem Alltag zu verdrängen. So schreibt sie ihrer Freundin Gabriele Freiin von Koenig-Warthausen im Sommer 1941: »Zwei Urlaubstage habe ich schon hinter mir, in denen ich mit meiner Mutter in einem stillen grünen Garten mitten im schwäbischen Land saß und Träuble zupfte. Es war ruhig und friedlich, und man merkte wenig davon, daß auf dieser blutigen Erde sich Millionen Menschen morden.« Sie wohnt nach dem Tod des Vaters im Jahr 1938 und ihrer Scheidung wieder mit der Mutter zusammen in der elterlichen Villa in Stuttgart-Degerloch. Doch das zermürbende Warten kann Ella Kessler-Reis nur selten verdrängen und kommentiert ihre Deportation im August 1942 mit den Worten: »Ich bin froh, daß ich dran bin«. Sie und ihre Mutter sind dem Transport nach Theresienstadt am 22. August 1942 zugeteilt. Ella Kessler-Reis schickt bis 1943 immer wieder Postkarten mit beruhigendem Inhalt. Während ihre Mutter überlebt, wird sie am 16. Oktober 1944 weiter nach Auschwitz verschleppt und getötet. sk
Maria Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch. Hrsg. von der Stadt Stuttgart. Stuttgart [1964] (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Sonderband). v. a. S. 229f.