* 19. August 1922 in Stuttgart
»Durch Zufall überlebt«
Als Neunzehnjährige wird Hannelore Kahn am 1. Dezember 1941 zusammen mit ihren Eltern vom Stuttgarter Killesberg aus nach Riga deportiert.
Kahn wächst zusammen mit einem Bruder in Stuttgart-Mitte auf. Ihre Mutter Hilda Kahn hat wie ihre sieben Geschwister eine ausgezeichnete Ausbildung bekommen, studierte sechs Jahre Klavier an der Hochschule für Musik und ließ sich zur Konzertsängerin ausbilden. Ihr Vater Max Kahn betreibt mit einem Mitgesellschafter am Stuttgarter Marktplatz neben dem Rathaus ein Haushaltswarengeschäft. In der Weltwirtschaftskrise 1929 muss das Geschäft schließen, der Vater arbeitet fortan als Vertreter. »Mit dem Machtantritt Hitlers 1933 ändert sich für die Familie langsam alles«, schreibt Hannelore Marx in ihren Erinnerungen: Der Bruder wird gezwungen, die höhere Schule zu verlassen und seinen Abschluss an der Volksschule zu machen. Hannelore Kahn wird 1936 der Schule verwiesen. In der jüdischen Schule in der Hospitalstraße gibt es nur Klassen für jüngere Kinder, so dass Hannelore Kahn keine Möglichkeit hat, einen Schulabschluss zu machen. Nach der so genannten »Reichspogromnacht« wird Kahns Vater in einem Lager interniert. Da er im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft hatte, kommt er nach vier Wochen wieder frei. Kahns Bruder gelingt im April 1939 die Auswanderung nach England. Er meldet sich 1941 als Freiwilliger für die englische Armee. Am 1. Dezember 1941 um drei Uhr morgens werden ungefähr tausend Juden aus der Versammlungshalle am Killesberg zum Nordbahnhof gefahren. Nach drei Tagen und drei Nächten Bahnfahrt erreichen sie Riga und werden im Lager »Jungfernhof« interniert. Im März 1942 wird Kahns Mutter durch ein Erschießungskommando ermordet, im August 1944 auch ihr Vater. Hannelore Kahn wird ins Vernichtungslager Stutthof bei Danzig gebracht. Am 10. Mai 1945 wird sie mit einer Gruppe weiterer Frauen von der russischen Armee in der Nähe von Köslin in Pommern befreit. Damit waren sie der ständigen Lebensgefahr und der Brutalität der Wachen und Aufseherinnen entronnen, doch erkennen nicht alle russischen Soldaten in der nach Westen ziehenden Mädchengruppe die ehemaligen KZ-Häftlinge. Da sie Deutsch sprechen, werden sie als Feinde angesehen, mehrere Frauen werden vergewaltigt, Hannelore Kahn selbst entgeht nur knapp diesem Schicksal. In Köslin müssen die Frauen mehr als fünf Monate für die russische Stadtbehörde arbeiten. Erst im Oktober 1945 kehrt Hannelore Kahn nach Stuttgart zurück. Nach ihrer Rückkehr wohnt sie zunächst im »Sanatorium« Katz in Stuttgart-Degerloch. Von den rund tausend Juden, die 1941 mit ihr nach Riga deportiert worden waren, kehren nur sechsunddreißig zurück. Hannelore Kahn verlobt sich im November 1946 mit Victor Marx – er hat seine Frau und seine Tochter in Riga verloren – und reist mit ihm zusammen im Mai 1946 über Bremerhaven nach New York aus. Fünfundfünfzig Jahre später verfasst Hannelore Marx für Sohn und Enkel ihre Lebenserinnerungen. cwt
Hannelore Marx: Stuttgart – Riga – New York. Mein jüdischer Lebensweg. Lebenserinnerungen. Horb-Rexingen 2005.