Selma Holzinger, geb. Oettinger
* 31. März 1884 in Riedlingen,
† 8. November 1940 in Stuttgart
Jakob Holzinger
* 12. April 1878 in Windsbach,
† 8. November 1940 in Stuttgart
»Das Sterben ist schwer«
Als Frau Wagner, die Angestellte des Arztes Jakob Holzinger, wie verabredet am Morgen des 8. November 1940 den Gashaupthahn schließen will, findet sie die Worte »Das Sterben ist schwer« auf der Schiefertafel vor Holzingers Wohnung. Der Versuch des Ehepaars, sich mit Gas das Leben zu nehmen, war misslungen. Noch am selben Tag gehen Jakob und Selma Holzinger mit Hilfe von Zyankali in den Freitod.
Jakob Holzinger kommt ursprünglich aus der Gegend von Bayreuth und studiert in Göttingen. Er ist kein orthodoxer Jude und spricht weder Hebräisch noch Jiddisch. Seine Frau Selma, die aus dem württembergischen Riedlingen stammt, zieht mit ihrem Mann in die Landhausstraße 181 im Stuttgarter Osten. In diesem Haus führt der Allgemeinmediziner Jakob Holzinger auch seine Arztpraxis. Viele erleben ihn als aufgeschlossenen und liberalen Mann, der in Ostheim beliebt ist. Arme und Arbeitslose weist Dr. Holzinger nicht ab: Wer nicht bezahlen kann, den behandelt er kostenlos. 1933 erhält Jakob Holzinger Berufsverbot. Auch seine Tochter Hermine darf in der Landesfrauenklinik in Berg nicht mehr länger als Krankenschwester arbeiten. Für sie und ihren Bruder Rudolf treffen die Eltern angesichts der einsetzenden Verfolgung Vorsorge. Sie erwerben mit ihren Ersparnissen für ihre Kinder eine kleine Finca auf Ibiza, wohin die Geschwister fliehen können. Kurz nach der so genannten »Reichspogromnacht« im November 1938 wird Jakob Holzinger ins Konzentrationslager Dachau gebracht, bald darauf jedoch wieder freigelassen, weil er im Ersten Weltkrieg Offizier war. Am 30. Januar 1939 spricht Hitler über »die Vernichtung der jüdischen Rasse«. Die Holzingers sind sich der Gefahr, in der sie schweben, sehr bewusst. Doch für die hohe »Reichsfluchtsteuer«, die auswanderungswillige Juden zu entrichten haben, sowie andere Auswanderungskosten, sind keine finanziellen Mittel mehr vorhanden. Die Eheleute bereiten ihren Abschied vor. Bücher, Kleidung und andere Habseligkeiten werden verschenkt. Auch Eugen Eberle, der als Bruder des Schwiegersohns mit den Holzingers freundschaftlich verbunden ist, erhält als Andenken einige Bücher. »Auf Wiedersehen«, sagt er am Abend vor ihrem Suizid zu den Holzingers. »Ausgerechnet Eugen, der Atheist, sagt ›Auf Wiedersehen‹, antwortet Selma lächelnd. Wenige Tage später findet die Beerdigung auf dem Stuttgarter Pragfriedhof statt. Das letzte Geleit geben ihnen fünf Personen: Eugen Eberle mit Frau und Mutter sowie Herr und Frau Wagner. Seit 1984 gibt es beim Stuttgarter Ostendplatz die Jakob-Holzinger-Gasse. Sie erinnert an den uneigennützigen Arzt, der angesichts der Bedrohung durch die Nationalsozialisten den Freitod wählte. ah
Guillermo Aparicio/Harald Stingele: Wer war Jakob Holzinger? und Eugen Eberle/Peter Grohmann: Der Freitod des Ehepaars Holzinger. In: Der jüdische Frisör. Auf Spurensuche. Juden in Stuttgart-Ost. Hrsg. von der Stuttgarter Osten Lokalzeitung. Stuttgart und Tübingen 1992. S. 41–44 und S. 45–48.