VORTRAG von Dr. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland am Samstag 20.März 2005, im Alten Schauspielhaus, Kleine Königstrasse 9, Stuttgart, bei einer Veranstaltung des Vereins ZEICHEN DER ERINNERUNG.
GRENZEN DER ERINNERUNG. GRENZEN DER DENKMALSKUNST
GRENZEN DER ERINNERUNG
»(…) Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort – und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß. Dann sagt der Mensch »ich erinnere mich und beneidet das Tier, welches sofort vergisst (…). So lebt das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt (…). Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die große und immer größere Last des Vergangenen (…). Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Herde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verleugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt.” (1)
So heißt es zu Beginn von Friedrich Nietzsches kulturkritischer Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben”. Und an anderer Stelle fährt er fort:
„Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben.” (2)
Und ein Blick in die Geschichte belegt tatsächlich die enge Verzahnung zwischen Erinnern und Vergessen. Zumindest bis ins 19. Jahrhundert hinein wird nach Kriegen, Streitereien und Auseinandersetzungen immer wieder beschlossen, vereinbart, eingeschärft, dass Vergessen sein soll – Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Bösem aller Art. Den Griechen wird jenes Wort verdankt, das ursprünglich „Nicht-Erinnern” heißt: Amnestie. Es war Grundlage zahlreicher Friedensschlüsse. So heißt es nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in einem Passus des Westfälischen Friedens: „Beiderseits soll das ewig vergessen und vergeben, alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schaden und Unkosten derart gänzlich abgetan sein, daß alles in ewiger Vergessenheit begraben sei.” Ähnliches verfügt Heinrich IV. im Edikt von Nantes, und 1814 wird die gleiche Methode auf die Untaten und Greuel der Französischen Revolution angewandt.
Der Wunsch, Vergessen zu stiften, ist keineswegs auf Europa beschränkt. Auch das „Begraben des Kriegsbeils” bei den Indianern gehört hierher: Man darf es nicht einfach wegwerfen, sonst könnte es wiedergefunden werden.
Doch vor allem in der europäischen Geschichte wurde über mehr als zwei Jahrtausende hinweg nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen beschlossen, das Geschehene zu vergessen. Straflosigkeit sollte gelten. Vermutlich zeigt sich dahinter die Vernunft von Generationen, die leidvoll gelernt haben, dass irgendwann jeder Konflikt ein Ende finden muss, wenn Krieg, Bürgerkrieg und Revolution nicht „fortzeugend Böses gebären” sollen. Dies gilt jedoch vor allem für Kombattanten: Je gleichrangiger die Gegner sind oder sich als solche einschätzen, desto eher ist es ihnen möglich, gegenseitig zugefügtes Leid zu vergessen.
Erinnerung lässt sich nicht ohne weiteres willentlich durch Verträge tilgen. Damit wäre nämlich in Kauf genommen, dass keine „Schutzwälle der Erinnerung” gegenüber späteren Wiederholungen einstmaliger Konflikte errichtet werden.
Spätestens seit Auschwitz besitzt das durch die Geschichte hindurch zu beobachtende Phänomen des vertraglich verordneten Vergessens keine Gültigkeit mehr. Die Erinnerung an Verbrechen jenseits menschlicher Vorstellungskraft hat nunmehr eine neue Bedeutung erlangt: Es soll und muss ihrer erinnert werden, damit das Ungeheuerliche und Unfassbare sich nicht wiederhole.
Wie also erinnern? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich Neues gelesen und früher Gelesenes wieder gelesen. Jetzt stelle ich fest: An das meiste davon erinnere ich mich nicht mehr. Ist das bedauerlich? Nur bedingt, denn wenn es für das vorliegende Thema wirklich von Bedeutung gewesen wäre, hätte ich es vermutlich nicht so schnell vergessen. In Erinnerung ist mir allerdings Michel de Montaignes Klage über sein schlechtes Gedächtnis geblieben. Nicht, dass er sich dessen rühmen würde, nein, aber allzu groß ist auch sein Bedauern nicht über diese von ihm umstandslos eingestandene Gedächtnisschwäche. Ihre Vorzüge sieht er vor allem in seinen notwendigerweise kurz gehaltenen Reden, im Umstand, sich viel Überflüssiges gar nicht erst merken zu müssen und erlittene Kränkungen schnell zu vergessen. Außerdem, so Montaigne, „lachen mich nun die mir entfallenen Orte und Bücher, wenn ich ihnen wieder begegne, stets mit der Frische des völlig Neuen an”. (4) Diese Gelassenheit kann der Autor der berühmten, im 16. Jahrhundert verfassten „Essais” an den Tag legen, weil er weiß, „daß ein ausgezeichnetes Gedächtnis oft mit schwachem Urteilsvermögen Hand in Hand geht”. (5) Und so legt er größeren Wert auf Verstand als auf Buchwissen, denn es ist nicht das Gedächtnis, sondern der Verstand, der aus allem Nutzen zieht.
Ähnlich argumentiert 300 Jahre später Friedrich Nietzsche in seiner eingangs zitierten Abhandlung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben”. Wie Montaigne verpönt auch er Faktenwissen und Gelehrsamkeit, wenn sie nicht im Dienste einer kritischen, dem Leben zugewandten Geschichtsbetrachtung stehen. Alles, was von diesem Ziel fortführt, darf dem Vergessen anheimfallen. Wie also erinnern?
An Montaigne und Nietzsche geschult lautet eine erste Antwort darauf: kritisch gegenüber dem Gegenstand der Erinnerung. Dies gilt, in Anlehnung an Nietzsche, gleichermaßen gegenüber der Geschichtsschreibung, die zwar nicht identisch mit Erinnerung ist, sich aber in Teilbereichen mit ihr überschneidet. Historiografie versucht Ereignisse der Geschichte, die schriftlichen und mündlichen Erinnerungen an sie, möglichst objektiv zu ermitteln, aufzuzeichnen und weiterzugeben. Bei allem zugestandenen Bemühen um Objektivität: Geschichtsschreibung kann nicht gänzlich frei bleiben von der subjektiven Perspektive derer, die historische Fakten in ausgewählte Zusammenhänge von Ursache und Wirkung stellen. Doch trotz solcher Einwände gegen eine gänzlich objektivierbare Historiografie: In den meisten Fällen lassen sich, zumal im Bereich der neueren Geschichte, Tatsachenbehauptungen überprüfen und fragwürdigen Geschichtsbetrachtungen stets plausiblere entgegensetzen.
Diese „objektivierende” Überprüfbarkeit unterscheidet Geschichtsschreibung grundsätzlich von Erinnerung. Letztere ist vor allem gekennzeichnet durch ihre Bindung an einzelne Menschen, an deren jeweils unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, sich an Erlebtes, Erzähltes, Gelesenes, an eigene Träume und Phantasien zu erinnern. Daher sind Erinnerungen keine „neutral” gespeicherten Informationen, sondern an positive oder negative Gefühle gebundene Bilder und Gedächtnisinhalte. Diese affektive Einfärbung allein kennzeichnet Erinnerung als subjektives Phänomen. Auch wenn mehrere Menschen zur selben Zeit am gleichen Ort Zeugen desselben Ereignisses sind, dann wird im besten Fall deren Beschreibung der äußeren Abläufe einigermaßen übereinstimmen, die gefühlsmäßige Aufnahme aber, die Bindung des jeweiligen Affektes an die Erinnerung dieses Ereignisses bleibt individuell und erhält damit für jeden einzelnen Beteiligten unterschiedliche Erinnerungsbedeutung.
Neben dieser subjektiven Qualität kommt Erinnerung noch eine zielgerichtete und zweckbestimmte zu. Erinnerung dient nicht nur praktischer Notwendigkeit; sie erfüllt gleichzeitig Bedürfnisse nach Legitimation, weil sie im Dienste des jeweiligen Menschen zur Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühles und der idealisierenden Selbstwahrnehmung seiner eigenen Biografie steht. Daher wandelt unser ständig kontrollierendes Legitimationsbedürfnis für uns unpassende Erinnerungen in „passende” um.
Im Rahmen des Forschungsprojektes „Tradierung von Geschichtsbewußtsein” ist der Sozialpsychologe Harald Welzer (Universität Hannover) der Frage nachgegangen, was „ganz normale” Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen und was davon durch Familienkommunikation an die Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird. (6) In 40 Familiengesprächen und 142 Interviews stellte sich unter anderem heraus, dass in Familien andere Bilder und Vorstellungen von der nationalsozialistischen Vergangenheit vermittelt werden, als in der Schule oder in den Medien. Die Kinder und Enkelkinder nutzten jeden noch so entlegenen Hinweis in den Familienerzählungen auf gute Taten ihrer Eltern oder Großeltern, um Versionen der Vergangenheit mit ihnen als guten Menschen zu erfinden.
Harald Welzer nennt den Vorgang, in dem aus antisemitischen Eltern und Großeltern Widerstandskämpfer werden, „kumulative Heroisierung”. Und weil gerade gut informierte Angehörige der Enkelgeneration das Bedürfnis haben, dem eigenen Großvater oder der Großmutter jeweils die Rolle der anderen, der guten Deutschen im nationalsozialistischen Alltag zuzuweisen, zeigt sich hier nach Welzers Auffassung eine paradoxe Folge der gelungenen Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit; Je umfassender das Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung ist, desto stärker fordern die familialen Loyalitätsverpflichtungen, Geschichten zu entwickeln, die beides zu vereinbaren erlauben – die Verbrechen »der Nazis’ oder ‚der Deutschen’ und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern.” (7) Dabei liegt die nicht hinterfragte Anziehungskraft der Vergangenheitsvermittlung in den Familien in ihrer Beiläufigkeit. Dies, so Harald Welzer, besitze etwas Zwingendes: „Die Bilder und Vorstellungen, die dabei transportiert werden, erzeugen Gewißheiten, nicht Wissen, und Gewißheiten sind Kritik gegenüber viel resistenter als ein Wissen, das eben auch hinterfragt und korrigiert werden kann.”
Wie also erinnern? In erneuter Anlehnung an Montaigne und Nietzsche lautet eine weitere Antwort: nicht nur kritisch gegenüber dem Gegenstand der Erinnerung, sondern auch kritisch gegenüber dem Erinnerungsprozess selbst. Notwendig ist eine kritische Distanz zu den Legitimationsbedürfnissen der eigenen Erinnerung und gegebenenfalls auch zu denen der eigenen Familie. Eine solche Einstellung kann zu handlungsorientierten Fragen führen wie: Was wurde in der eigenen Familie über die Zeit zwischen 1933 und 1945 erzählt? Von welchen Rechtfertigungsabsichten wurden die Großeltern oder Eltern dabei möglicherweise geleitet? War man vielleicht selbst unwissend Teil eines idealisierenden Erinnerungssystems gewesen?
Werden „objektive” Geschichtsereignisse Teil des nach dem Legitimationsprinzip arbeitenden Erinnerungsapparates, dann unterliegen sie ebenso gefühlsmäßiger Einfärbung und selektiver Wahrnehmung wie Erinnerung selbst. Ist dies bei aller zugegebener Gefahr, die dahinter steckt, grundsätzlich und in allen Fällen abzulehnen? Wer sich mit dem nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen und dessen bis heute spürbaren Nachwirkungen beschäftigt, kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen: Lassen sich Mitfühlen, das heißt: partielle Identifikation mit den Opfern und Wahrung kritischer Distanz zum Gegenstand der Geschichtsschreibung vereinbaren?
Während der Debatte um die Errichtung des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas” wurde eines deutlich: Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden – und hier insbesondere an den deutschen Juden – wird heute von den meisten Deutschen so empfunden, als sei er nicht an Deutschen, sondern „nur” an Fremden verübt worden. Das Gefühl einer zivilisatorischen und kulturellen Selbstamputation würde aber voraussetzen, diese Menschen als Angehörige des eigenen Volkes, nämlich als Deutsche zu betrachten – nicht nur verbal als „jüdische Deutsche” oder „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens”, sondern – bei aller Differenz – schlicht als Deutsche, die auch Juden waren (oder Juden, die auch Deutsche waren).
Dieser identifikatorische Akt geht über bloß verstandesmäßiges Erfassen hinaus und beinhaltet eine affektive Annäherung an dieses schwierige Thema als Voraussetzung für Empfindungen wie Trauer oder Verlust. Hier wird deutlich: Wo man selbst in eine Geschichte wie die des Nationalsozialismus und seiner Folgen eingebunden ist, lassen sich Erinnerung und Historiografie, Gefühl und Verstand nicht eindeutig voneinander trennen. Stets gehen sie eine Verbindung ein, in der es nur schwerlich zu einem dauerhaften Gleichgewicht zwischen gefühlsgeleiteter Erinnerung und distanzierender Geschichtsbetrachtung kommen kann.
Wenn wir akzeptieren, dass es weder eine bequeme Abkürzung noch einen erlösenden Königsweg zu einer Erinnerung als absolut verlässlichem Träger historischer Inhalte und geschichtlicher Lehren gibt, werden wir auf dem Weg zur Beantwortung der Eingangsfrage „Wie erinnern?” sein. Je mehr wir dabei über Geschichte und deren selektive Übertragungsmuster in unsere Erinnerung wissen und je mehr wir bereit sind, dieses Wissen auch anzuwenden, desto erfolgreicher können wir unsere Erinnerung von eigenen Legitimationsbedürfnissen freihalten.
Anmerkungen
1 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, zitiert nach: insel taschenbuch 1236, Frankfurt a. M. 1989, S. 13.
2 Friedrich Nietzsche, (wie Anm. 1), S. 15.
3 Christian Meier, Erinnern-Verdrängen-Vergessen, in: ders., Das Verschwinden der Gegenwart, München/Wien 2001, S. 80. Auch die nachfolgenden Beispiele für Friedensschlüsse sind dem Aufsatz von Christian Meier entnommen.
4 Michel de Montaigne, Essais, Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 23.
5 Michel de Montaigne, (wie Anm. 4), S. 20.
6 Harald Welzer, „Bei uns waren sie immer dagegen”: Wie im Familiengespräch aus Zuschauern und Tätern Helden des alltäglichen Widerstands wurden, in: Frankfurter Rundschau vom 6. Januar 2001, S. 7.
7 Harald Welzer, (wie Anm. 6).
8 Harald Welzer, (wie Anm. 6).
GRENZEN DER DENKMALSKUNST
Über die Darstellung des Unvorstellbaren, das Vergessen und das Gedenken.
Als Moses vom Berg Sinai herabstieg, um den Kindern Israel die Bundestafeln mit den Zehn Geboten zu überbringen, sah er die Israeliten um das Goldene Kalb tanzen. Die Legende besagt, Moses habe bis zu diesem Augenblick die schweren Steintafeln mühelos getragen; der den eingemeißelten Buchstaben innewohnende Geist Gottes hatte die Bundestafeln schwerelos gehalten. Durch den Frevel der Kinder Israel lösten sich die göttlichen Buchstaben von den Bundestafeln und entschwebten zum Himmel; die Tafeln aber, wieder schwere, unbeseelte Materie geworden, fielen zu Boden und zerbrachen.
In diesem Ereignis und der sie begleitenden Legende verdichtet sich ein grundlegender Wesenszug des Judentums: der von Materie und Götzenbildern abgelöste Monotheismus: »Du sollst keine anderen Götter haben vor meinem Angesicht. Du sollst Dir kein Bild machen und keinerlei Gestalt von dem, was im Himmel oben, oder im Wasser unter der Erde ist.« (1) Das zweite Gebot des am Sinai verkündeten Dekalogs forderte von den Kindern Israel den endgültigen Bruch mit der zu jener Zeit weithin verbreiteten Vielgötterei. Anstelle von Götzenbildern sollten sie von nun an einen einzigen unsichtbaren Gott verehren, der weder Gestalt noch Namen hatte. Die Erfüllung dieser Forderung als Grundlage des Bundes bedeutete für die Israeliten den endgültigen Verzicht, göttliche Macht durch Vergegenständlichung der Gestalt Gottes magisch bannen zu können; sie war gleichzeitig die Anerkennung seiner unsichtbaren Allgegenwart, der man nicht entfliehen konnte, und in letzter Konsequenz der Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit. (2)
Die Aufhebung der magischen Macht des materialisierten Götzenbildes und deren Übertragung auf einen entmaterialisierten, unsichtbaren Gott kennzeichnet den Übergang von der an Gegenstände gebundenen, konkret-bildhaften Erinnerung zur entmaterialisiert-abstrakten. Während erstere, die konkret-bildhafte Erinnerung, an bestimmte Orte, Gegenstände, Oberflächen gebunden ist und grundsätzlich durch Ortswechsel abgelegt werden kann, ist letztere, die entmaterialisiert-abstrakte, davon losgelöst und damit weit stärker im Individuum oder Kollektiv verinnerlicht. Die zuvor erfolgte Loslösung des Glaubens von vermeintlicher Magie bestimmter Gegenstände, von materieller Bindung überhaupt, war Voraussetzung und Grundlage einer dauerhaften, vergeistigten, internalisierten Erinnerung.
Die daraus erwachsende, unablässig tätige Auseinandersetzung religiöser Juden mit ihrem unsichtbaren allgegenwärtigen Gott, mit ihrer Religion und Geschichte zeitigte eine enge Verknüpfung zwischen jüdischer Geschichte und kollektivem historischen Gedächtnis des jüdischen Volkes. Noch heute gedenken Juden an bestimmten Feiertagen des vor mehr als 3000 Jahren erfolgten Auszuges der Kinder Israel aus Ägypten, des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. Chr., der Zerstörung des Zweiten Tempels vor 2000 Jahren und weiterer, lange zurückliegender, freudiger und trauriger Ereignisse. Es ist dies ein aktives Gedenken, das bestimmten Riten und Ritualen folgt und über Jahrhunderte hinweg als fester Bestandteil jüdisch-religiösen Lebens lebendig geblieben ist.
Muß das kollektive historische Gedächtnis durch verdinglichtes Gedenken, zum Beispiel durch Denkmäler anstelle wiederkehrender aktiver Gedenkriten gestützt werden, dann bedeutet dies die Abkehr vom geistig verinnerlichten Gedenken und Hinwendung zu einem konkreten, veräußerlichten, an bestimmte Gegenstände gebundenes Gedenken, zugespitzt: Rückfall in Idolatrie, in den Glauben an die magische oder dauerhafte Wirkung von bestimmten Gegenständen.
Hier kommt die Kunst ins Spiel und ihr wird als Ersatz für Eigenantrieb des Individuums oder Kollektivs – nämlich selbst Erinnerung aktiv aufrechtzuerhalten – magische Wirkung zugeschrieben. Nach Art des Delegationsprinzips soll das künstlerisch gestaltete Denkmal zumindest einen Teil der Erinnerungsarbeit erbringen, die das Kollektiv nicht mehr leistet – das Denkmal erhält Stellvertreterfunktion. Wenn sich Erinnerung im Denkmal konkretisiert, dann hat sie sich für jedermann sichtbar verdinglicht; die eigene Erinnerung ist gestützt, entlastet und bedarf nicht mehr derselben Anstrengung wie zuvor.
Dauerhafte Erinnerung, so die Lehre aus Ursprung und Geschichte des Monotheismus, ist weder an bestimmte Gegenstände noch an Materie überhaupt gebunden, sondern wird durch fortwährende kollektive Ritualisierung transgenerationell im Individuum verinnerlicht. Denkmäler als materialisierte Erstarrung vormals lebendig-komplexer Erinnerung bedürfen zur Entfaltung ihrer begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des interessierten, informierten Betrachters, der die im Denkmal künstlerisch-erstarrte Erinnerung in eine lebendige zurückzuüberführen vermag. Gelingt dies nicht, dann hat es seinen Zweck verfehlt. Mit anderen Worten: Schwindet beim Betrachter die historische Erinnerung, dann schwindet die Möglichkeit des dialogischen Prinzips zwischen Mahnmal und Betrachter. Aufgrund dieser dialogischen Wirkungsweise können Denkmäler allein keine Versicherung gegen Vergessen sein. Immer wieder sind die letztgenannten Argumente im Zusammenhang mit Mahnmalen, die in Deutschland an den Holocaust erinnern, vorgebracht worden. Hier hinterließ der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Juden eine traumatische Belastung des nationalen Selbstverständnisses. Wie bei psychischen Traumata üblich, reagierten viele Deutsche mit Abwehr, Leugnung, Verdrängung der eigenen Geschichte, verstärkt durch Flucht in einen hektischen Wiederaufbau. Das daraus entwickelte historische Gedächtnis mußte zwangsläufig unscharf bleiben. So beschränken sich viele der nach 1945 errichteten Mahnmale auf die Formulierung pazifistischer Allgemeinplätze. Es überwiegt der alle besänftigende Wunsch, die Überlebenden zu Frieden und Menschlichkeit zu verpflichten, ohne eine Präzisierung der Inhalte vorzunehmen, deren man gedenkt.
Indem sich Denkmäler einer Aussage über Schuldige enthalten, verschleiern und verleugnen sie – spiegelbildlich zur Seelenlage weiter Bevölkerungskreise – Ursachen und Hintergründe der Kriegskatastrophe. Eine Mahnmalspolitik herrschte vor, deren Vorbilder Plastiken und Denkmäler aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sind: Im Zentrum steht das Opfer, dessen künstlerische Darstellung oft christlicher Ikonographie entlehnt ist. In religiös eingefärbter Verklärung des unermeßlichen Leids löst sich jede Konkretisierung der Ereignisse ins Allgemeinmenschliche, ja, Kosmische auf – Ausdruck eines flickenhaften historischen Gedächtnisses und Ausdruck der Unfähigkeit zu aufrichtiger Trauer.
Es war vermutlich der Wechsel von Kriegs- zu Nachkriegsgeneration samt dem Einfluß der achtundsechziger Bewegung auf die bundesrepublikanische Gesellschaft, der eine Änderung des Geschichtsbewußtseins und damit des historischen Gedächtnisses in weiten Kreisen der akademischen Jugend und kritischer Intellektueller einleitete. Das veränderte Geschichtsbewußtsein hinsichtlich des Nationalsozialismus stellte auch bisherige Formen des Gedenkens in Frage. In diesen Jahren entstand gegen herkömmliche Gedenkstätten und ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit die Bewegung der sogenannten Gegen- oder Antidenkmäler. Worauf es ankomme, so ihre Maxime, sei vor allem die prozessuale Dimension des kollektiven historischen Gedächtnisses, die Thematisierung von Vergessen und Verdrängen, von Wiedererinnern, Deuten und Umdeuten.
Eine neue Künstlergeneration stellte Denkmäler als Träger öffentlicher Erinnerung radikal in Frage. Sie erschwerte eher Erinnerung, statt sie anzuregen.
Horst Hoheisel zum Beispiel ließ 1987 in Kassel den 1908 von einem früheren jüdischen Bürger gestifteten, 1939 von den Nazis zerstörten Brunnen in Negativform wiedererstehen, indem er ihn rekonstruierte und umgekehrt in die Erde versenkte. Das Kasseler »Denkloch« sollte als »negatives« Spiegelbild des früheren Brunnens die Geschichte des Ortes als eine Wunde und offene Frage in das Bewußtsein der Öffentlichkeit retten.
Das 1986 von Jochen und Esther Gerz errichtete Harburger »Mahnmal gegen den Faschismus«, eine zwölf Meter hohe, bleiverkleidete Säule, lud den Betrachter dazu ein, seinen Namen in sie einzuritzen, um, abschnittsweise vollgeschrieben, Stück für Stück in die Erde versenkt zu werden. Die Bürger mußten dieses Mahnmal in Gebrauch nehmen, sonst wäre es als Menetekel dafür sichtbar geblieben, daß zu wenige sich mit ihrem Namen gegen den Faschismus bekannt hatten. Gerade weil die Säule langsam verschwand, war sie dem Bewußtsein der Öffentlichkeit näher, als starre, „ewigwährende” Denkmäler, die man jederzeit beliebig aufsuchen kann. Im Jahr 1993 war die Säule vollständig versenkt – unsichtbar geworden wie die verschwundenen Opfer des Nationalsozialismus.
Die Abkehr von herkömmlichen starren, verdinglichten Denkmälern und Hinwendung zu allmählich verschwindenden oder unsichtbaren Installationen ist mehr als nur eine Anspielung auf den jüdischen Schriftglauben und das Bilderverbot. Es ist die Abwendung von idolatrischen, verdinglichten Denkmalvorstellungen und in gewisser Weise eine Rückkehr zum Sinai, zur Aufforderung fortwährender eigenverantwortlicher, geistiger Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit kollektiver und individueller historischer Erinnerung. In dieser Phase kritischer Mahnmalsdebatten forderte die Fernsehjournalistin Lea Rosh 1988 die Errichtung eines »Denkmals für die ermordeten Juden Europas« in Berlin. Sie stieß auf offene Ohren.
Kurz vor dem Mauerfall wurde im November 1989 mit vielen prominenten Mitgliedern der »Förderkreis zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas e. V.« gegründet. (3) Im Frühjahr 1992 erklärte der Bund seine Bereitschaft, gemeinsam mit dem Land Berlin und dem Förderkreis die Trägerschaft für das Denkmal zu übernehmen. Wenige Monate später entschied das Innenministerium unter Rücksichtnahme auf den Standpunkt des Zentralrates der Juden in Deutschland, kein gemeinsames Mahnmal für die ermordeten Juden und die Sinti und Roma zu errichten. Im November 1992 stand fest, daß das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« auf einem Grundstück des Bundes südlich des Brandenburger Tors, in den ehemaligen Ministergärten, errichtet werden soll. Bund und Land Berlin verpflichteten sich, die Hälfte der Realisierungskosten zu übernehmen; die andere Hälfte will der »Förderkreis« durch Spenden aufbringen.
Im April 1994 wurde von den Auslobern Bund, Land Berlin und Förderkreis ein anonymer bundesoffener künstlerischer Wettbewerb mit zwölf eingeladenen internationalen Künstlern für das geplante »Denkmal« ausgeschrieben. Etwa 2600 Künstler forderten die Wettbewerbsunterlagen an, 528 Entwürfe wurden bis zum 28. Oktober 1994 abgegeben. Das fünfzehnköpfige Preisgericht vergab nach fünf Sitzungen am 16. März 1995 zwei gleichrangige erste Preise, einen an Simon Ungers (Köln) und einen weiteren an die Künstlergruppe Christine Jackob-Marks, Hella Rolfes, Hans Scheib, Reinhard Stangi (Berlin), daneben wurden fünfzehn weitere Arbeiten preisgekrönt. Bis zum Sommer sollte eine Machbarkeitsstudie klären, welcher Entwurf realisiert wird.
In den folgenden Wochen erschienen zahlreiche, überwiegend ablehnende Kommentare zum Ergebnis des Wettbewerbs. Ignatz Bubis kritisierte die monströse Grabplatte der Künstlergruppe um Christine Jackob-Marks und geißelte vor allem den Aufruf des Förderkreises, Spenden über in die Grabplatte einzumeißelnden Opfernamen zu sammeln. Jeder, der ein schlechtes Gewissen habe, so Bubis, könne hier einen Ablaßhandel mit Namen treiben. Im Juni 1995 gab die Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen Berlin bekannt, daß der Entwurf der Künstlergruppe um Christine Jackob-Marks, die Mega-Grabplatte, realisiert werden soll. Ende Juni legte Bundeskanzler Kohl sein Veto gegen diese Entscheidung ein und erklärte gleichzeitig, daß der Bund das vorgesehene Grundstück für die Realisierung dieses Entwurfes nicht zur Verfügung stellen werde.
Die zunächst favorisierte, dann kritisierte Mega-Grabplatte ist ein weiteres Beispiel dafür, daß viele Deutsche in einem fortdauernden schleichenden Prozeß semantisch auf der Ebene jüdischer Opfer angelangt sind. Wie muß ein historisches Gedächtnis strukturiert sein, das fünfzig Jahre nach Kriegsende im Land der Täter immer noch zum Indentitätstransfer in Richtung Opfer neigt? Wenn in Israel staatlich überhöht oder individuell betrauert der Ermordeten gedacht wird, in den Vereinigten Staaten der Holocaust den dort lebenden Juden als Identitätsstütze dient, dann sollte es in Deutschland, dem Land, in dem der nationalsozialistische Massenmord geplant wurde, eine Selbstverständlichkeit sein, vor allem an die Täter und ihre Taten zu erinnern.
Von den preisgekrönten Arbeiten, die dies versucht haben, scheiterten die meisten an der Austauschbarkeit der von ihnen gewählten Gestaltungselemente oder an der Tatsache, daß das darzustellende Ausmaß des Infernos sich nicht symmetrisch nach dem Ausmaß von Fläche und Kubatur bemißt. Überhaupt ist es unmöglich, Ereignisse, die im Hohlraum der Zivilisation stattgefunden haben, mit den Mitteln einer Kunst darzustellen, die ihre Wurzeln außerhalb dieses Hohlraums hat: »Nur der verwandte Schmerz entlockt uns die Träne, und jeder weint eigentlich für sich selbst« (4), sagt Heinrich Heine. Dies scheint zweierlei Vermutungen zu bestätigen. Zuerst, daß vielleicht nur der unmittelbar betroffene Künstler, der das ihm eingebrannte Inferno überlebt hat, dieses authentisch darstellen könne. Des weiteren, daß nur derjenige, der diesen Schmerz am eigenen Leib gespürt hat, ihn auch nachempfinden kann.
Können nur überlebende Künstler mit dem ihnen eingebrannten Schrecken das Grauen des Holocaust authentisch darstellen? Betrachtet man literarische, vor allem aber zeichnerische Werke von Menschen, die Vernichtungslager überlebt haben, dann wird man zugeben müssen, daß es sich um die aufwühlendsten, eindringlichsten und glaubwürdigsten Zeugnisse des Grauens handelt. Auch dem Außenstehenden, der das Inferno nicht unmittelbar erlebt hat, teilt sich davon etwas mit, sofern er sich Mitgefühl und Leidensfähigkeit bewahrt hat. Doch ist Mitfühlen und partielles Nacherleben nur möglich, weil hier Leid in seiner jeweils individuellen Erfahrung gezeigt wird. Die Überlebenden selbst wollten es nur so; sie wünschten sich bildlichen, figurativen Ausdruck ihres unermeßlichen Leids. Verallgemeinernde Darstellungen des Infernos mit abstrahierenden Gestaltungsmitteln trafen ihren Schmerz nicht.
Die überzeugende künstlerische Transformation persönlicher Erfahrungen aber in die Überindividuelle Dimension der Katastrophe ist – soweit ich es beurteilen kann – nicht gelungen. Sie kann wahrscheinlich nicht gelingen, weil der künstlerischen Darstellung des Holocaust Grenzen gesetzt sind, die ich mit »Taschenlampen-Phänomen« bezeichnen möchte. Entweder ist der projizierte Taschenlampenstrahl gebündelt, konturenscharf, hell, eine kleine Fläche maximal ausleuchtend – dies entspräche dem Individuellen, Figurativen -, oder er ist gestreut, dunkler, eine große Fläche überstreichend – was der Darstellung verallgemeinerter Aspekte des Holocaust entspräche. Aus dieser Ausschließlichkeit scheint es keinen Ausweg zu geben.
Man stelle sich vor, es gelänge einem Künstler vom Range eines Michelangelo, ein Holocaust-Mahnmal zu schaffen, das bei jedem Betrachter ein bis in die Tiefen seiner Seele hinabreichendes »erkennendes Erschrecken« auslöste. Dies käme einer Erlösung von dunklen Bildern, Ahnungen und Ängsten nahe, die allesamt durch ein solches Mahnmal festumrissene Gestalt erhielten und damit in ihm gebunden, wenn nicht gar gebannt wären. Weitere Auseinandersetzungen mit einem quälenden Thema könnten gemildert werden, wenn ein solches Mahnmal, einem Götzenbild gleich, einen Teil des freischwebenden Seelenpotentials aus der Erblast des Nationalsozialismus an sich binden könnte.
Wenn also der Kunst die Darstellung des Unvorstellbaren nur begrenzt gelingen kann, dann ist zu prüfen, ob authentische Orte der Vernichtung künstlerischen Lösungen an nichtauthentischen Orten überlegen sind. Dabei ist folgendes zu berücksichtigen: Authentische Gedenkorte wie Erschießungsstätten, Konzentrations- und Vernichtungslager können im jeweils vorgefundenen zufälligen – meist verfallenen – Zustand nichtssagende Idyllen für den Besucher sein; Fundamente von verfallenen Baracken, zerstörten Gaskammern oder Krematorien sagen, für sich genommen, nichts aus. Steine sprechen nicht von selbst, sie müssen auch am authentischen Ort erst zum »Sprechen« gebracht werden.
Deshalb schließen authentische Orte und künstlerische Darstellungen des Gedenkens einander nicht aus. Beide können sich entweder ergänzen oder auch jeweils für sich selbst stehen. Die Gedenkstätten in Treblinka und Buchenwald zeigen, welche gelungene Verbindung authentischer Ort und künstlerische Darstellung miteinander eingehen können. Ohne gegängelt zu werden, spürt der Betrachter durch einfühlsame künstlerische Gestaltung etwas von jener Grausamkeit, Brutalität und Ausweglosigkeit, die einst an diesen Orten herrschte. Vermutlich gibt es eine Wechselwirkung zwischen authentischem Ort und sensibel gestaltetem Mahnmal: Wenn ein geglücktes Mahnmal den authentischen Ort zum »Sprechen« bringen kann, dann verleiht dieser dem Mahnmal etwas von der eigenen Authentizität. Doch ist eine solch überzeugende Symbiose nur am Ort des Verbrechens möglich.
Was aber gilt für den Normalfall, für das Mahnmal am nichtauthentischen Ort? Damit kehren wir zurück zum Sinai, zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Gedenken, so die Schlußfolgerung, ist aktive, bewußte Zuwendung zu bestimmten Ereignissen der Geschichte und dient damit der Festigung des individuellen und kollektiven historischen Gedächtnisses. Läßt das lebendige Wechselverhältnis zwischen historischem Gedächtnis und Gedenken nach, dann bedarf es zur Stützung ersatzweise eines konkreten Gegenstandes, eben eines sinnlichen Denkmals oder Mahnmals. Man könnte dies als Abkehr vom verinnerlichten Prinzip des Gedenkens und Hinwendung zur Idolatrie betrachten. Doch wäre dies kurzschlüssig, weil damit eine über tausendjährige Entwicklung abendländischer Kunst von der Ikone zum Gemälde ignoriert würde, das heißt die allmähliche Umwandlung des ursprünglich religiös verehrten Heiligenbildes zum Kunstwerk als Gegenstand verweltlichten Genusses.
In der christlich-abendländischen Kunst, in der das Abbildungsverbot des Alten Testaments von jeher wenig Geltung besaß, wurde im Laufe von Jahrhunderten – spätestens seit der Renaissance – die unmittelbare heilige Verehrung von Bildern, Ikonen, Statuen, Gotteshäusern abgelöst durch distanzierende, ästhetische Wertschätzung und kunsthistorisches Interesse. Die Oberflächenwirkung des nur noch unter ästhetischen Kategorien genossenen Bildes verselbständigte sich zusehends vom religiösen Inhalt der christlichen Ikone und dominiert seither unsere Wahrnehmung. Es ist – verkürzt betrachtet — die unumkehrbare Entwicklung vom unsichtbaren Gott zum Heiligenbild und vom Heiligenbild zum ästhetischen, von religiösen Inhalten emanzipierten Bild. Es brächte wenig, in kulturhistorischen Pessimismus zu verfallen und den Untergang von Lesekultur, abstraktem Denken und anderer Errungenschaften des nachgutenbergischen Zeitalters zu beklagen. Dem monotheistischen Prinzip wohnt schließlich auch ein Stück Sinnen- und Genußfeindlichkeit inne. Bilder können eine wesentliche Bereicherung unserer Wahrnehmung sein, wenn sie nicht andere Formen unserer Rezeption beeinträchtigen oder ersetzen.
Ideal wäre, wenn die gesamte »verinnerlichte« und »veräußerlichte« Palette der Gedenkmöglichkeiten genutzt werden könnte, um individuelle und kollektive historische Erinnerung zu bewahren. Nichts anderes wird heute im Staat der Juden in Yad Vashem angestrebt und streckenweise verwirklicht.
Die begründete Vermutung, es könne das Holocaust-Denkmal nicht geben, führt nicht notwendigerweise zu dem Schluß, daß es dann besser keines geben dürfe. Man kann Erwartungen und Forderungen an ein solches Mahnmal so weit nach oben schrauben, bis es immun gegen jede Realisierung ist. Es ist aber auch möglich, diese Erwartungen von vornherein auf ein realistisches Maß zu reduzieren, nämlich auf Beantwortung der Frage, was ein solches Mahnmal in unserer Zeit zu leisten vermag, wenn doch das absolute Holocaust-Mahnmal gar nicht wünschenswert ist. Je weniger dem Mahnmal am Akt des Gedenkens abverlangt wird, desto mehr muß vom Betrachter erwartet und erbracht werden, so daß die Forderung nach dem »absoluten« Holocaust-Mahnmal nichts anderes ist als die Entlassung des Betrachters aus der Notwendigkeit aktiven Gedenkens.
Ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas kann, wie die Kulturhistorikerin Stefanie Endlich schreibt, nur Teil »eines Dialogs in Politik und Kultur, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit sein. Diesen Dialog kann es im besten Fall verstärken, verbreitern, vielleicht auch verändern und zur notwendigen Verunsicherung beitragen, aber niemals ersetzen.« (5)
Sofern nicht religiös gestützt, gilt für das Gedenken Friedrich Nietzsches Feststellung: »Nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.« (6) Weil aber kein Schmerz ewig währt, schwindet mit der Zeit – und sei es über Generationen hinweg – jede noch so quälende Erinnerung. Zurück bleibt dann bestenfalls ein ästhetisch ansprechendes Denkmal, in dem das zu gedenkende Ereignis »gefühlsneutral« aufbewahrt ist – ähnlich einem historischen Datum im Gedächtnis der Zeitgenossen. Und sollten bis dahin die Lehren aus der Geschichte gezogen worden sein, dann wäre die unumgängliche Tatsache erträglicher, daß jedes Denkmal am Ende zum Denkmal seiner eigenen Vergänglichkeit wird.
Anmerkungen:
1 2. Buch Mose 20, 3–4
2 Vgl. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Gesammelte Werke XVI, Frankfurt a. M. 1950, S. 101 ff.
3 Ute Heimrod, Günter Schlusche und Horst Seferens, Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas”. Eine Dokumentation, Berlin 1999, S. 27 ff.
4 Heinrich Heine, Reisebilder II: Italien, Die Bäder von Lucca, Kap. I, in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften (hrsg. von Klaus Briegleb), 2. Bd., München 1969, S. 396.
5 Stefanie Endlich, Beitrag ohne Titel, in: Der Wettbewerb für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas”, Berlin 1995, S. 36.
6 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 2. Abh., in: Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden, 2. Bd., Darmstadt 1963, S. 802.