Völkermord an den Sinti und Roma
Die Grundlage der nationalsozialistischen „Rassenpolitik” war nicht nur ein mörderischer Antisemitismus, sondern auch das biologisch begründete Feindbild vom „Zigeuner”. Im Zuge der Nürnberger Gesetze (1935) wurden Sinti und Roma ebenso wie die Juden als „fremdrassig” bzw. „fremdblütig” definiert und waren deshalb im Alltag vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt. Große Bedeutung bei diesem Prozess der systematischen Ausgrenzung kam der Rassenforschung zu, die eng mit dem SS-Apparat zusammenarbeitete. Ärzte und Anthropologen wie Robert Ritter, Leiter der 1936 in Berlin eingerichteten „Rassenhygienischen Forschungsstelle”, begründeten den Völkermord nicht nur ideologisch, sondern schufen durch die Erfassung aller im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma zugleich die Voraussetzung für dessen praktische Umsetzung. Heinrich Himmlers Runderlass vom 8. Dezember 1938, in dem einleitend von der Notwendigkeit einer „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage” die Rede ist, war von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verfolgungsprozess. In dem Erlass wird ausdrücklich auf die „rassenbiologischen Forschungen” der Ärzte Bezug genommen. Zu diesem Zeitpunkt waren schon Hunderte Sinti und Roma in Konzentrationslagern inhaftiert, wo sie dem Terror der SS ausgesetzt waren.
Mit der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs im September 1939 und der im gleichen Monat erfolgten Gründung des „Reichssicherheitshauptamts” als zentraler Instanz der nationalsozialistischen „Rassenpolitik” trat der Verfolgungsprozess in eine neue Phase. Nach der Besetzung Polens begann die SS-Führung damit, ihre Pläne einer „völkischen Flurbereinigung” – verbunden mit der „Umsiedlung” und gewaltsamen Vertreibung Hunderttausender Menschen – in die Tat umzusetzen. Ein wesentlicher Bestandteil dabei war die vorgesehene Deportation aller im Deutschen Reich lebenden Juden sowie Sinti und Roma in die besetzten polnischen Gebiete. Dies beschloss eine hochrangige SS-Konferenz, die am 21. September 1939 in Berlin stattfand und deren Protokoll erhalten geblieben ist. Der Vorbereitung der Deportationen diente auch Himmlers so genannter „Festsetzungserlass” vom 17. Oktober 1939, der Sinti und Roma unter Androhung von KZ-Haft untersagte, ihren Wohnort zu verlassen.
Am 27. April 1940 gab Heinrich Himmler den Befehl zur Deportation von zunächst 2.500 Sinti und Roma in das besetzte Polen, und zwar in geschlossenen Familien. Nach ihrer Ankunft wurden sie in Arbeitslagern und später auch in Gettos eingepfercht. Selbst Kinder und alte Menschen mussten dort bis zur völligen Erschöpfung beim Straßenbau, in Steinbrüchen oder in Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit leisten. Hunger, Kälte und Misshandlungen bestimmten den Alltag. Wer erkrankte, wurde sich selbst überlassen. Vor allem wer nicht mehr arbeiten konnte, lebte in der ständigen Angst, erschossen zu werden. Der größte Teil der im Mai 1940 aus Deutschland deportierten Sinti und Roma kam im besetzten Polen gewaltsam ums Leben.
Im November 1941 wurden etwa 5.000 Sinti und Roma aus dem österreichischen Burgenland – ein Großteil waren Kinder und Jugendliche – in das Getto Litzmannstadt deportiert, wo innerhalb des jüdischen Gettos ein eigens abgetrenntes „Zigeunerlager” eingerichtet wurde. Hunderte Menschen starben in den folgenden Wochen auf Grund der mörderischen Lebensbedingungen, vor allem an Typhus. Man begrub sie in einem gesonderten Bereich des jüdischen Friedhofs. Im Januar 1942 wurden alle Insassen des „Zigeunerlagers” Litzmannstadt in das Vernichtungslager Chelmno gebracht, wo man sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaswagen ermordete.
Zu diesem Zeitpunkt war der nationalsozialistische Völkermord auch in den anderen besetzten Gebieten Ost- und Südosteuropas bereits in vollem Gang. Dies belegen die Massenerschießungen in der Sowjetunion, wo die „Einsatzgruppen” der SS, aber auch Polizeikommandos und Einheiten der Wehrmacht, hinter der Front Juden, Sinti und Roma und andere als „Reichsfeinde” eingestufte Gruppen systematisch ermordeten.
Am 16. Dezember 1942 ordnete Himmler mit dem so genannten „Auschwitz-Erlass“ die Deportation der noch im Reichsgebiet verbliebenen Sinti und Roma nach Auschwitz an. Wenig später ergingen entsprechende Befehle für den Bezirk Bialystok, Elsass und Lothringen, Luxemburg, Belgien sowie die Niederlande. Ab Februar 1943 wurden annähernd 23.000 Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau deportiert, darunter Staatsangehörige fast aller europäischen Länder. Der größte Teil stammte aus dem Reichsgebiet: 10.000 deutsche und 3.000 österreichische Sinti und Roma. In völlig überfüllten Eisenbahnwaggons eingesperrt, überlebten viele die Qualen der mehrtägigen Fahrt nach Auschwitz nicht. Der gesamte Besitz der Menschen – Häuser und Grundstücke, Schmuck und Barvermögen, sogar der zurückgebliebene Hausrat – wurde wie im Fall der Juden als „staatsfeindlich” beschlagnahmt und zu Gunsten des Reiches eingezogen.
Die in Auschwitz-Birkenau eintreffenden Sinti- und Roma-Familien wurden im Lagerabschnitt B II e, der von einem elektrisch geladenen Stacheldraht umgeben war und der von der SS als „Zigeunerlager” bezeichnet wurde, in völlig überfüllte Holzbaracken eingepfercht. Zuvor erfasste man die Menschen nach Geschlechtern getrennt in Lagerbüchern und tätowierte ihnen außerdem ein „Z” mit einer Nummer auf den Arm, kleinen Kindern auf den Oberschenkel. Im März und im Mai 1943 ermordete die SS insgesamt über 2.700 Sinti und Roma in den Gaskammern. Ende 1943 war bereits der größte Teil der im „Zigeunerlager” inhaftierten Menschen auf Grund des Terrors und der unmenschlichen Lebensbedingungen umgekommen. Am 16. Mai 1944 – zu diesem Zeitpunkt waren von den insgesamt 23.000 Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau nur noch etwa 6.000 Menschen am Leben – gab es einen ersten Versuch der SS, alle Lagerinsassen des „Zigeunerlagers” in den Gaskammern zu ermorden. Doch die Häftlinge, unter denen sich viele ehemalige Wehrmachtssoldaten befanden, leisteten Widerstand. Sie hatten am Vorabend eine Warnung erhalten und verbarrikadierten sich – bewaffnet mit Werkzeugen und anderen provisorischen Waffen – in den Baracken. Daraufhin brach die SS die geplante Mordaktion ab. In der Folge wurden alle als „arbeitsfähig” eingestuften Sinti und Roma in andere Konzentrationslager im Reich transportiert. Dort sollten sie „durch Arbeit vernichtet werden”. Der größte Teil der Männer wurde nach Buchenwald und von dort in andere Lager transportiert. Die Frauen und Mädchen kamen nach Ravensbrück, und in verschiedene Außenlager, wo sie Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisten mussten. Insgesamt blieben etwa 2.900 Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau zurück: vor allem alte und kranke Menschen, Mütter und Kinder. Sie alle wurden bei der endgültigen Auflösung des „Zigeunerlagers” in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet. Heute steht der Name Auschwitz in der internationalen Öffentlichkeit auch symbolhaft für den Völkermord an den Sinti und Roma, dem im besetzten Europa schätzungsweise eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel. Das Spezifische der NS-Verfolgung der Sinti und Roma besteht darin, dass sie sich nicht gegen Individuen mit abweichendem oder unerwünschtem Verhalten, sondern gegen die „rassisch” bzw. genetisch definierte Minderheit der Sinti und Roma als Ganzes richtete. Selbst Menschen, die NS-Rassenbiologen als „Achtelzigeuner” einstufte, wurden verfolgt. Eindringlichstes Zeugnis für die Totalität des Vernichtungswillens gegenüber der Minderheit ist das Schicksal der Kinder: Sogar Sinti- oder Roma-Kinder, die in „arischen” Familien aufwuchsen, wurden bürokratisch erfasst und in die Vernichtungslager deportiert.
Von einem modernen Staatsapparat im Namen einer menschenverachtenden Ideologie ins Werk gesetzt, entzieht sich der Völkermord an den Sinti und Roma ebenso wie der Völkermord an den europäischen Juden bis heute allen historischen Vergleichen.
Quelle:
Wolfgang Benz und Barbara Distel
Die Organisation des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Verlag C.H. Beck, 2005.
Publiziert in:
Zeichen der Erinnerung…
Auflage 2009 (S. 95 – 97)