Wolfgang Benz und Barbara Distel

Völkermord an den Sinti und Roma

Die Grund­la­ge der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Ras­sen­po­li­tik” war nicht nur ein mör­de­ri­scher Anti­se­mi­tis­mus, son­dern auch das bio­lo­gisch begrün­de­te Feind­bild vom „Zigeu­ner”. Im Zuge der Nürn­ber­ger Geset­ze (1935) wur­den Sin­ti und Roma eben­so wie die Juden als „fremd­ras­sig” bzw. „fremd­blü­tig” defi­niert und waren des­halb im All­tag viel­fäl­ti­gen Dis­kri­mi­nie­run­gen aus­ge­setzt. Gro­ße Bedeu­tung bei die­sem Pro­zess der sys­te­ma­ti­schen Aus­gren­zung kam der Ras­sen­for­schung zu, die eng mit dem SS-Appa­rat zusam­men­ar­bei­te­te. Ärz­te und Anthro­po­lo­gen wie Robert Rit­ter, Lei­ter der 1936 in Ber­lin ein­ge­rich­te­ten „Ras­sen­hy­gie­ni­schen For­schungs­stel­le”, begrün­de­ten den Völ­ker­mord nicht nur ideo­lo­gisch, son­dern schu­fen durch die Erfas­sung aller im Deut­schen Reich leben­den Sin­ti und Roma zugleich die Vor­aus­set­zung für des­sen prak­ti­sche Umset­zung. Hein­rich Himm­lers Rund­erlass vom 8. Dezem­ber 1938, in dem ein­lei­tend von der Not­wen­dig­keit einer „end­gül­ti­gen Lösung der Zigeu­ner­fra­ge” die Rede ist, war von ent­schei­den­der Bedeu­tung für den wei­te­ren Ver­fol­gungs­pro­zess. In dem Erlass wird aus­drück­lich auf die „ras­sen­bio­lo­gi­schen For­schun­gen” der Ärz­te Bezug genom­men. Zu die­sem Zeit­punkt waren schon Hun­der­te Sin­ti und Roma in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern inhaf­tiert, wo sie dem Ter­ror der SS aus­ge­setzt waren.

Mit der Ent­fes­se­lung des Zwei­ten Welt­kriegs im Sep­tem­ber 1939 und der im glei­chen Monat erfolg­ten Grün­dung des „Reichs­si­cher­heits­haupt­amts” als zen­tra­ler Instanz der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Ras­sen­po­li­tik” trat der Ver­fol­gungs­pro­zess in eine neue Pha­se. Nach der Beset­zung Polens begann die SS-Füh­rung damit, ihre Plä­ne einer „völ­ki­schen Flur­be­rei­ni­gung” – ver­bun­den mit der „Umsied­lung” und gewalt­sa­men Ver­trei­bung Hun­dert­tau­sen­der Men­schen – in die Tat umzu­set­zen. Ein wesent­li­cher Bestand­teil dabei war die vor­ge­se­he­ne Depor­ta­ti­on aller im Deut­schen Reich leben­den Juden sowie Sin­ti und Roma in die besetz­ten pol­ni­schen Gebie­te. Dies beschloss eine hoch­ran­gi­ge SS-Kon­fe­renz, die am 21. Sep­tem­ber 1939 in Ber­lin statt­fand und deren Pro­to­koll erhal­ten geblie­ben ist. Der Vor­be­rei­tung der Depor­ta­tio­nen dien­te auch Himm­lers so genann­ter „Fest­set­zungs­er­lass” vom 17. Okto­ber 1939, der Sin­ti und Roma unter Andro­hung von KZ-Haft unter­sag­te, ihren Wohn­ort zu verlassen.

Am 27. April 1940 gab Hein­rich Himm­ler den Befehl zur Depor­ta­ti­on von zunächst 2.500 Sin­ti und Roma in das besetz­te Polen, und zwar in geschlos­se­nen Fami­li­en. Nach ihrer Ankunft wur­den sie in Arbeits­la­gern und spä­ter auch in Get­tos ein­ge­pfercht. Selbst Kin­der und alte Men­schen muss­ten dort bis zur völ­li­gen Erschöp­fung beim Stra­ßen­bau, in Stein­brü­chen oder in Rüs­tungs­be­trie­ben Zwangs­ar­beit leis­ten. Hun­ger, Käl­te und Miss­hand­lun­gen bestimm­ten den All­tag. Wer erkrank­te, wur­de sich selbst über­las­sen. Vor allem wer nicht mehr arbei­ten konn­te, leb­te in der stän­di­gen Angst, erschos­sen zu wer­den. Der größ­te Teil der im Mai 1940 aus Deutsch­land depor­tier­ten Sin­ti und Roma kam im besetz­ten Polen gewalt­sam ums Leben.

Im Novem­ber 1941 wur­den etwa 5.000 Sin­ti und Roma aus dem öster­rei­chi­schen Bur­gen­land – ein Groß­teil waren Kin­der und Jugend­li­che – in das Get­to Litz­mann­stadt depor­tiert, wo inner­halb des jüdi­schen Get­tos ein eigens abge­trenn­tes „Zigeu­ner­la­ger” ein­ge­rich­tet wur­de. Hun­der­te Men­schen star­ben in den fol­gen­den Wochen auf Grund der mör­de­ri­schen Lebens­be­din­gun­gen, vor allem an Typhus. Man begrub sie in einem geson­der­ten Bereich des jüdi­schen Fried­hofs. Im Janu­ar 1942 wur­den alle Insas­sen des „Zigeu­ner­la­gers” Litz­mann­stadt in das Ver­nich­tungs­la­ger Chelm­no gebracht, wo man sie unmit­tel­bar nach ihrer Ankunft in Gas­wa­gen ermordete.

Zu die­sem Zeit­punkt war der natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Völ­ker­mord auch in den ande­ren besetz­ten Gebie­ten Ost- und Süd­ost­eu­ro­pas bereits in vol­lem Gang. Dies bele­gen die Mas­sen­er­schie­ßun­gen in der Sowjet­uni­on, wo die „Ein­satz­grup­pen” der SS, aber auch Poli­zei­kom­man­dos und Ein­hei­ten der Wehr­macht, hin­ter der Front Juden, Sin­ti und Roma und ande­re als „Reichs­fein­de” ein­ge­stuf­te Grup­pen sys­te­ma­tisch ermordeten.

Am 16. Dezem­ber 1942 ord­ne­te Himm­ler mit dem so genann­ten „Ausch­witz-Erlass“ die Depor­ta­ti­on der noch im Reichs­ge­biet ver­blie­be­nen Sin­ti und Roma nach Ausch­witz an. Wenig spä­ter ergin­gen ent­spre­chen­de Befeh­le für den Bezirk Bia­lys­tok, Elsass und Loth­rin­gen, Luxem­burg, Bel­gi­en sowie die Nie­der­lan­de. Ab Febru­ar 1943 wur­den annä­hernd 23.000 Sin­ti und Roma nach Ausch­witz-Bir­ken­au depor­tiert, dar­un­ter Staats­an­ge­hö­ri­ge fast aller euro­päi­schen Län­der. Der größ­te Teil stamm­te aus dem Reichs­ge­biet: 10.000 deut­sche und 3.000 öster­rei­chi­sche Sin­ti und Roma. In völ­lig über­füll­ten Eisen­bahn­wag­gons ein­ge­sperrt, über­leb­ten vie­le die Qua­len der mehr­tä­gi­gen Fahrt nach Ausch­witz nicht. Der gesam­te Besitz der Men­schen – Häu­ser und Grund­stü­cke, Schmuck und Bar­ver­mö­gen, sogar der zurück­ge­blie­be­ne Haus­rat – wur­de wie im Fall der Juden als „staats­feind­lich” beschlag­nahmt und zu Guns­ten des Rei­ches eingezogen.

Die in Ausch­witz-Bir­ken­au ein­tref­fen­den Sin­ti- und Roma-Fami­li­en wur­den im Lager­ab­schnitt B II e, der von einem elek­trisch gela­de­nen Sta­chel­draht umge­ben war und der von der SS als „Zigeu­ner­la­ger” bezeich­net wur­de, in völ­lig über­füll­te Holz­ba­ra­cken ein­ge­pfercht. Zuvor erfass­te man die Men­schen nach Geschlech­tern getrennt in Lager­bü­chern und täto­wier­te ihnen außer­dem ein „Z” mit einer Num­mer auf den Arm, klei­nen Kin­dern auf den Ober­schen­kel. Im März und im Mai 1943 ermor­de­te die SS ins­ge­samt über 2.700 Sin­ti und Roma in den Gas­kam­mern. Ende 1943 war bereits der größ­te Teil der im „Zigeu­ner­la­ger” inhaf­tier­ten Men­schen auf Grund des Ter­rors und der unmensch­li­chen Lebens­be­din­gun­gen umge­kom­men. Am 16. Mai 1944 – zu die­sem Zeit­punkt waren von den ins­ge­samt 23.000 Sin­ti und Roma in Ausch­witz-Bir­ken­au nur noch etwa 6.000 Men­schen am Leben – gab es einen ers­ten Ver­such der SS, alle Lager­in­sas­sen des „Zigeu­ner­la­gers” in den Gas­kam­mern zu ermor­den. Doch die Häft­lin­ge, unter denen sich vie­le ehe­ma­li­ge Wehr­machts­sol­da­ten befan­den, leis­te­ten Wider­stand. Sie hat­ten am Vor­abend eine War­nung erhal­ten und ver­bar­ri­ka­dier­ten sich – bewaff­net mit Werk­zeu­gen und ande­ren pro­vi­so­ri­schen Waf­fen – in den Bara­cken. Dar­auf­hin brach die SS die geplan­te Mord­ak­ti­on ab. In der Fol­ge wur­den alle als „arbeits­fä­hig” ein­ge­stuf­ten Sin­ti und Roma in ande­re Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger im Reich trans­por­tiert. Dort soll­ten sie „durch Arbeit ver­nich­tet wer­den”. Der größ­te Teil der Män­ner wur­de nach Buchen­wald und von dort in ande­re Lager trans­por­tiert. Die Frau­en und Mäd­chen kamen nach Ravens­brück, und in ver­schie­de­ne Außen­la­ger, wo sie Zwangs­ar­beit für die Rüs­tungs­in­dus­trie leis­ten muss­ten. Ins­ge­samt blie­ben etwa 2.900 Sin­ti und Roma in Ausch­witz-Bir­ken­au zurück: vor allem alte und kran­ke Men­schen, Müt­ter und Kin­der. Sie alle wur­den bei der end­gül­ti­gen Auf­lö­sung des „Zigeu­ner­la­gers” in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gas­kam­mern ermor­det. Heu­te steht der Name Ausch­witz in der inter­na­tio­na­len Öffent­lich­keit auch sym­bol­haft für den Völ­ker­mord an den Sin­ti und Roma, dem im besetz­ten Euro­pa schät­zungs­wei­se eine hal­be Mil­li­on Men­schen zum Opfer fiel. Das Spe­zi­fi­sche der NS-Ver­fol­gung der Sin­ti und Roma besteht dar­in, dass sie sich nicht gegen Indi­vi­du­en mit abwei­chen­dem oder uner­wünsch­tem Ver­hal­ten, son­dern gegen die „ras­sisch” bzw. gene­tisch defi­nier­te Min­der­heit der Sin­ti und Roma als Gan­zes rich­te­te. Selbst Men­schen, die NS-Ras­sen­bio­lo­gen als „Ach­tel­zi­geu­ner” ein­stuf­te, wur­den ver­folgt. Ein­dring­lichs­tes Zeug­nis für die Tota­li­tät des Ver­nich­tungs­wil­lens gegen­über der Min­der­heit ist das Schick­sal der Kin­der: Sogar Sin­ti- oder Roma-Kin­der, die in „ari­schen” Fami­li­en auf­wuch­sen, wur­den büro­kra­tisch erfasst und in die Ver­nich­tungs­la­ger deportiert.

Von einem moder­nen Staats­ap­pa­rat im Namen einer men­schen­ver­ach­ten­den Ideo­lo­gie ins Werk gesetzt, ent­zieht sich der Völ­ker­mord an den Sin­ti und Roma eben­so wie der Völ­ker­mord an den euro­päi­schen Juden bis heu­te allen his­to­ri­schen Vergleichen.

 

 

 

Quel­le:
Wolf­gang Benz und Bar­ba­ra Distel
Die Orga­ni­sa­ti­on des Ter­rors. Geschich­te der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Ver­lag C.H. Beck, 2005.

 

 

Publiziert in:
Zeichen der Erinnerung…
Auflage 2009 (S. 95 – 97)